Gauthier Dance hat im Stuttgarter Theaterhaus Mauro Bigonzettis „Alice“ uraufgeführt. Überbordende choreografische Einfälle und herausragende Tänzer machen die Produktion zu einem Ereignis.

Stuttgart - Als Eric Gauthier am Mittwochabend im schwarzen Gehrock, bebrillt und mit Buch und Feder in der Hand, als Lewis Carroll durch den Biergarten des Theaterhauses schlendert, weht ein Hauch von Nostalgie über den Pragsattel – trotz des WM-Fußballspiels, das über den großen Flachbildschirm flimmert. Wenig später liest der Chef von Gauthier Dance vor der Bühne als Autor von „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ aus einem Buch vor. Da stellt sich die Frage, ob die Uraufführung von Mauro Bigonzettis „Alice“ womöglich Züge eines Kinderballettnachmittags tragen wird. Tut sie aber nicht. Es kommt ganz anders.

 

Die größte Produktion, die Gauthier Dance bisher auf die Bühne gebracht hat, trägt unverkennbar die Handschrift des ehemaligen künstlerischen Leiters von Aterballetto, der zu Eric Gauthiers Lieblingschoreografen zählt. Nicht nur, weil Bigonzetti für die Musik zu „Alice“ wieder das süditalienische Trio Assurd zusammen mit Antongiulio Galeandro und Enza Pagliara verpflichtet hat. Sie sind von seiner Produktion „Cantata“ noch in bester Erinnerung. Auch das Konzept, etliche Figuren der 1864 und 1871 in England entstandenen Geschichten mehrfach auftreten zu lassen, um unterschiedliche Facetten ihres Wesens zu beleuchten, setzt er in „Alice“ ein.

Details kehren wieder: Der Hutmacher trägt nicht nur auf dem Kopf einen Zylinder, sondern auch unter seinem Fuß. Das weckt Erinnerungen an Bigonzettis „Romeo-und-Julia“-Ballett, wo die Tänzer auf Motorradhelmen balancieren.

Die Zeit vergeht wie im Fluge

„Alice“ ist mit knapp drei Stunden ein großes Handlungsballett. Und die Zeit vergeht wie im Fluge. Mauro Bigonzetti hat seine Protagonisten mit viel Fingerspitzengefühl und Sachkenntnis ausgewählt, denn die Mitglieder von Gauthier Dance sind in „Alice“ wirklich großartig. Waren schon bisher ihre persönlichen Stärken auf der Bühne präsent, tragen sie in „Alice“ Wesentliches zur Dichte und Schlüssigkeit des Werkes bei. Allen voran Anna Süheyla Harms und Garazi Perez Oloriz, welche die Figur der Alice in ihrer ganzen Vielfältigkeit lebendig werden lassen: mit ihrer Neugier, Unerschrockenheit und Hingabe, ihrem Temperament, ihrer Furcht und ihrer Willenlosigkeit.

Der Choreograf setzt das humorvoll in Szene: Die kleine, zierliche Oloriz verschwindet anfangs unter der roten Haarmähne der großgewachsenen Harms und reckt nur hin und wieder die Nasenspitze aus dem Haarvorhang hervor, um so zu tun, als tränke sie eine gepflegte Tasse Tee. Beide Tänzerinnen bilden zunächst eine physische Einheit, tanzen meist miteinander verbunden, auf jeden Fall aber synchron. Diese Einheit wird zunehmend aufgebrochen, bis sich beide am Ende trennen. Während die eine (Harms) sich immer stärker zum verrückten Hutmacher (Florian Lochner) hingezogen fühlt, entwickelt sich zwischen der anderen (Oloriz) und dem Kaninchen (Rosario Guerra) eine besondere Beziehung. Die beiden Männer kommen, wie auch die Königin (Annaleen Dedroog) und die Raupe (Juliano Nunes Pereira ) nur einmal vor. Ein Teil von Alice bleibt schließlich für immer im Wunderland, hinter den Spiegeln, zurück.

Dass die Geschichte viel Unsinn enthält und genau so von einem echten Mädchen namens Alice an einem Sommertag 1862 bestellt wurde, betont Eric Gauthier zu Beginn mehrfach. Nonsens ist das aber eigentlich gar nicht, was sich auf der Bühne abspielt. Jedenfalls nicht auf den zweiten Blick. Auf den ersten ist es einfach herrlich, wie Rosario Guerra mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Verrücktheit und intuitiver Strategie als weißes Kaninchen sämtliche Figuren dirigiert und über Alice wacht – eine Paraderolle für den temperamentvollen Italiener.

Balanceakte auf dem Zylinderhut

Bedächtiger tritt Florian Lochner als verrückter Hutmacher auf, bedingt schon durch den großen Zylinder unter seinen Fußsohlen, der das Gehen schwierig macht und sich zugleich als Podest für erstaunliche Balanceakte verwenden lässt. Immer wieder streift er dieses Attribut ab, um mit Anna Sühyela Harms zu tanzen: Pas de deux, an denen man sich gar nicht sattsehen mag. Sie setzten den bemerkenswerten, mitunter akrobatischen Ideenreichtum Bigonzettis mit einer sinnlichen, geradezu erotischen Intensität um, die ihresgleichen sucht.

Guerro und Oloriz agieren nicht weniger hinreißend, wenngleich ihre Interaktionen mehr spielerischer Natur sind. Großartig ebenfalls Maurus Gauthier als eine Hälfte der Grinsekatze. Sein Pas de deux mit Oloriz nimmt gefangen. Maria Prat Balasch bildet ansonsten sein verrückt-faszinierendes Pendant. Eine großartige Leistung ist Annaleen Dedroogs glatzköpfige Königin. In ihrer Kälte und ihrem Machthunger gefangen, ist sie der Gegenpol zur durch und durch lebendigen, sehr weiblichen Alice. Wie sehr sie dieser Zustand quält, vermittelt der geradezu animalische Nachdruck, mit dem sie immer wieder in die Haarmähnen der Alice-Tänzerinnen greift und hineinbeißt.

Der Kontrast, den Bigonzetti durch das Zusammenführen der englisch-skurrilen Figuren und der erdverhafteten Musik aus Süditalien erreichen wollte, ist groß. Aber wie immer, wenn starke Gegensätze aufeinandertreffen, entsteht Spannung, Energie. Bei „Alice“ ist es so, als ließe die sehr emotionale Musik den schrägen Figuren heißes Blut in die Adern schießen, als fügte sie der Freude am Spiel mit dem Skurrilen etwas zutiefst Menschliches hinzu.

Das Schlusswort hat Lewis Carroll

Die akustischen Affekte durch die Musiker, die immer wieder aus anderen Richtungen auf die Bühne kommen, machen das Geschehen noch sinnlicher, noch unmittelbarer. Die vielfach eingängigen Melodien und Rhythmen vereinfachen den Zugang zum Bühnengeschehen – wenngleich manche Formationen, die an folkloristische Reigentänze erinnern, zuweilen etwas deplatziert wirken.

Zum magischen Gesamteindruck tragen nicht zuletzt das Lichtdesign und die Videoprojektionen von Carlo Cerri (mit Ooopstudio) bei: Er führt den Blick des Publikums durch Projektionen verschiedener Bilderrahmen in prachtvolle Palast-Spiegelgalerien, die er auch mal auf den Kopf stellt und voll Wasser laufen lässt. Die Ausstatterin Helena de Medeiros verzichtet auf putzige Kostümorgien zugunsten reduzierter Gewänder, welche den Charakter der Figuren unterstreichen. Das Schlusswort hat dann wieder Eric Gauthier als Lewis Carroll. Er wäre als Rahmenfigur eigentlich gar nicht unbedingt notwendig. Sein Auftritt als Gitarre spielender Rocksänger zu Beginn des zweiten Teils macht dessen ungeachtet Spaß.

Aufführungen
am 27. und 28. Juni sowie am 1., 2., 3. und 5. Juli. Weitere Aufführungen bis 13. Juli im Theaterhaus Stuttgart. Danach geht die Produktion auf Tournee.