Amokalarm! Terrorgefahr! Die destruktiven Kräfte treiben uns um – und rufen Reaktionen hervor, die an den „Deutschen Herbst“ zu RAF-Zeiten erinnern.

Angst - Es ist eine frühkindliche Erfahrung, die viele kennen dürften: Kaputtmachen ist viel leichter als aufbauen. Da zirkelt das Kind behutsam Klötzchen auf Klötzchen, um einen tollen Turm zu bauen, da wird stundenlang und liebevoll mit Schäufelchen und Eimer eine prunkvolle Sandburg errichtet – kaum kommt der böse Bube oder das fiese Nachbarsmädchen um die Ecke: Zack! Alles im Eimer, zunichte gemacht!

 

Ganz ähnliche Erfahrungen macht in jüngster Zeit das fragile Konstrukt, das sich „offene Gesellschaft“ nennt. Da werden über Jahrzehnte hinweg Dinge aufgebaut wie Liberalität, Bürgerrechte, Freiheit. Doch dann kommen die bösen Buben – Bin Laden, Twin Towers oder Amokläufer aller Art: Zack! Schnell werden diese Errungenschaften wieder eingeschränkt oder zumindest in Frage gestellt.

Höchste Stufe der Nervosität

Es ist weit gekommen mit uns. Terrorfurcht, Amokangst treiben, so scheint es, uns alle oft vor uns her, mit den stampfenden Füßen eines bösen Nachbarkindes. Erst vergangene Woche gab es wieder so ein Ereignis, das nachdenklich stimmen kann. Ein Fotograf unserer Zeitung sollte eine Außenaufnahme des Lise-Meitner-Gymnasiums in Remseck machen – für einen an sich harmlosen Artikel über die Schwierigkeiten, für den Rektor Hartmut Riedel einen Nachfolger zu finden. Dummerweise hatte der Kollege keinen blassen Schimmer davon, dass kurz zuvor just dort Amokalarm ausgelöst wurde, und das zum zweiten Mal in Folge. Auf der Schultoilette hatte jemand Gewalttaten angekündigt. Höchste Nervositätsstufe also: die Polizei fuhr dort Streife und stellte den Fotografen zur Rede, was er hier tue. Der Rektor selbst wurde eingeschaltet. Die Sache gipfelte in einem unerquicklichen Gespräch im Rektorat und der Aufforderung, die Fotos zu löschen, was der verschreckte Kollege auch tat.

Nun muss man dazu mehrere Dinge wissen: 1. Der Fotograf hat in Ausübung seines Jobs wohl unvorsichtigerweise einen oder zwei Füße auf das (aus öffentlichem Steuergeld finanzierte) Schulgelände gesetzt, was er – streng genommen – ohne Erlaubnis nicht tun darf. 2. Die Amokdrohung hat sich inzwischen als böse Form der Wichtigtuerei eines Jugendlichen entpuppt. Und 3.: Der Fotograf ging einfach ein paar Meter weiter weg und fotografierte das Schulgebäude per Teleobjektiv.

Bombenalarm wegen Gummibärchen

Es soll deshalb an dieser Stelle auch nicht vordergründig um den Kampf für die Freiheit von Wort und Bild gehen. Vielmehr fällt einfach auf, dass wir inzwischen in einer Gesellschaft leben, in der eine Toilettenschmiererei derart drastische, beinahe hysterische Wirkungen zeitigen kann. So etwa auch in Mühlacker im Enzkreis. Am Bahnhof hatte ein Unbekannter vor einiger Zeit einen Rollkoffer unbeaufsichtigt an den Gleisen stehen lassen (dabei heißt es doch in Flughäfen gebetsmühlenhaft „please don’t leave your luggage unattended“). Die Folge waren nicht nur der Einsatz eines Bombenkommandos und die weiträumige Sperrung des Bahnhofs. Es stand gar die Drohung im Raum, dass der Besitzer des Koffers, so man ihn denn finde, gefälligst den aufwendigen Einsatz bezahlen solle. Später stellte sich übrigens heraus, dass der gefährlichste Stoff im Koffer ein großes Glas mit Gummibärchen war.

Wahrscheinlich muss selbstkritisch eingestanden werden, dass wir als hauptamtliche Mitarbeiter der viel gescholtenen Lügenpresse auch unseren Anteil an solchen Trends tragen. Wird durch Art und Umfang unserer Berichterstattung vielleicht den Tätern, die das wirkungsmächtige Argument ihres angerichteten, riesigen Schadens auf ihrer Seite haben, zu viel Aufmerksamkeit geschenkt? Gibt es einen Weg zurück weg vom neuen Deutschen Herbst der Angst zur verlorenen Unbedarftheit einer „Wird schon nix passieren“-Gesellschaft? Oder sind Hysterie, Panik und Überreaktion auch künftig unsere ständigen Begleiter? Auch wenn es Spaß macht, als Kolumnist immer den All- oder Besserwisser herauszuhängen: wir haben da heute leider auch keine Antworten.