Sabine Märkle ist der Fels in der Brandung einer schwäbischen Großfamilie. Demnächst erwartet sie ein Baby. Es ist ihr neuntes.

Stuttgart - Eigentlich sagt das alte Bett alles über Frau Märkle. Es steht da, orangefarben bezogen, und wartet, bis es Abend wird. Sie hat es günstig erstanden, wie das meiste in ihrer Wohnung. Am Anfang war es nur 1,40 Meter breit. Irgendwie ist es mitgewachsen. 2,80 Meter misst es jetzt. Ausgedehntes Liegevergnügen im doppelten Doppelbett mit zwei Gestellen und vier Matratzen. "Meine Kinder dürfen nachts kommen, wenn ihnen danach ist", sagt Frau Märkle. Bei ihr will das etwas heißen.

Frau Märkle braucht länger, bis sie alle vorgestellt hat. Florian, 18; Michael, 17; Benjamin 15; Anna-Lena 13; Maximilian, 8; Franziska, 6; Christian 5; Sebastian, 4. Die Geburt des neunten Kinds ist auf Mitte Januar terminiert. Es wird ein Mädchen. Vielleicht gibt's auch ein Christkind.

So viele Namen klingen seltsam in Zeiten, in denen das Gespenst des demografischen Wandels durchs Land geistert und sich die Deutschen ums Aussterben sorgen. Wer hat schon neun Kinder? Großfamilien könnten unter Artenschutz gestellt werden, so selten sind sie geworden. Als kinderreich gilt man in Deutschland mit drei oder mehr Kindern. Der Anteil solcher Familien schrumpfte in den vergangenen dreißig Jahren um mehr als vierzig Prozent.

Mit 42 Jahren nochmal ein Geschenk des Himmels


Frau Märkle denkt nicht in solchen Kategorien. Sie hat ihre eigenen. "Ich stehe aus ganzem Herzen zu meinen Kindern", sagt sie mit leicht bayerischem Akzent, auch zum Ungeborenen. Das Baby, das sie unterm Herzen trägt, war nicht geplant. "Ein Überraschungskind." Frau Märkle hatte nach Sebastian den Kinderwagen verkauft, die Spielsachen verschenkt und die Strampler entsorgt. "Für mich ist auch dieses Kind ein Geschenk des Himmels", sagt sie. "Es wird uns bereichern." So denkt man, wenn man Frau Märkle heißt. Dafür fängt sie noch einmal von vorne an - mit 42. Ihr Arzt hat seine Stirn in Falten gelegt und die schwangere Patientin mit medizinischem Vokabular umwölkt. "Bin ich jetzt keine Mutter mehr?", fragte Frau Märkle. "Bin ich jetzt bloß noch ein adjustiertes Risiko?"

Es ist Freitagvormittag. Die 135 Quadratmeter große Wohnung gleicht einer Bühne, auf der das Leben jeden Tag ein Kammerspiel gibt. Im Moment ist nur eine Rolle besetzt. Ihr Mann und die Kinder sind unterwegs. Frau Märkle steht mutterseelenallein in ihrer Küche und bereitet das Mittagessen vor: zwanzig Semmelknödel, ein Kilo Rindsgulasch, ein Kopf Salat, ein Kilo Karotten. Das geht ratzfatz. Die Frau ist staatlich geprüfte Hauswirtschaftsmeisterin. "Gestern gab's beim Aldi günstig Schokolade", erzählt sie nebenbei. Sie hat 25 Tafeln gekauft.

Das Gulasch kommt alleine zurecht. Frau Märkle gönnt sich eine Butterbrezel. Sie ist eine zierliche Frau, 1,70 Meter klein und voller Energie. Wo ihre Kraft herkommt, weiß sie selbst nicht so genau. Sie vermutet, dass es mit ihrer Kindheit zu tun hat, die in einem abgewetzten Album, das auf dem Tisch liegt, konserviert ist.

Frau Märkle blättert die Vergangenheit auf. Es fängt nicht besonders gut an. Als drittes von fünf Kindern ist sie im März 1968 in Tuttlingen mit einer Darmverwachsung zu Welt gekommen. "Ich stand zweimal auf der Kippe", sagt sie. "Vielleicht kommt daher meine Willenskraft."

Vater Werner ist Hauptmann der Reserve bei der Bundeswehr, Mutter Agnes katholische Religionslehrerin. 1973 siedelt die Familie nach Stuttgart um. Die fünf Geschwister sind höchst unterschiedlich. Die einen hören Michael Jackson und David Bowie. Sabine steht auf kernige Volksmusik, spielt Hackbrett, jodelt im Dirndl und tanzt in der Untertürkheimer Trachtengruppe. Ihr Vorbild ist die Mutter. Agnes Arlt-Mangold ist eine selbstbewusste Frau, die sich einmischt. 1992 zieht sie für die CDU in den Stuttgarter Gemeinderat ein.

Kinder als Zeichen der Liebe


Tochter Sabine wird nach der Realschule städtische Hauswirtschafterin. Bei einer Volkstanzwoche in Tübingen lernt sie Thomas kennen. Sie übernehmen die Jugendherberge im Schloss Rechenberg und heiraten. Frau Märkle wird nicht nur Herbergsmutter, sie schenkt auch vier Kindern das Leben. Irgendwann wechseln sie beruflich nach Ludwigsburg. Es kriselt. Die Ehe hält nicht - Scheidung. Frau Märkle findet in Heinz-Peter einen neuen Partner. Sie kennen sich noch vom Trachtenverein. Neues Glück. "Wenn man sich liebt, dann wird man halt schwanger", umschreibt sie ihren kleinen, persönlichen Extremismus. Fünf Mal passiert es mit Heinz-Peter.

Frau Märkle klappt ihr Album zu. Draußen vor dem Fenster hängt ein Vorhang aus feinen Regentropfen über dem Garten. "Ein ganz normales Leben", sagt sie, "nichts Besonderes." Da mag sich Frau Märkle täuschen. In Baden-Württemberg kommen pro Jahr nur 250 Kinder zur Welt, die sechs oder sieben Geschwister haben. Dafür hat sich die Zahl der Singlehaushalte in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt.

Frau Märkle hat dazu ihre eigene Meinung. "Großfamilien wird es schwergemacht, wenn sie eine Wohnung suchen", sagt sie. "Die Toleranz ist in unserer Gesellschaft spätestens nach dem dritten Kind erschöpft." Leute mit Haustieren hätten es leichter. "Da brauchen Sie nur in den Supermarkt zu schauen, wo das Angebot an Hunde- und Katzenfutter mehr Platz in den Regalen einnimmt als Babynahrung."

18 Jahre Erfahrung mit Erziehung hat Frau Märkle, die ein politischer Mensch ist. 2009 stand sie in Ludwigsburg auf der Gemeinderatsliste der CDU. Frau Märkle sagt, was sie fühlt: "Je mehr Kinder Sie haben, desto mehr werden Sie bei uns infrage gestellt." Niemand danke es einer Frau, wenn sie bewusst auf ihr Einkommen verzichte, um ein Familienunternehmen zu führen. Experten schätzen, dass Eltern in die Erziehung eines Kindes bis zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit je nach Ausbildung zwischen 200000 und 350000 Euro investieren. Bei den Märkles wären es demnach mehr als 1,8 Millionen Euro, wenn die Kleinste einst erwachsen ist. Für die eigene Rente, für ein kleines bisschen Luxus, bleibt kaum etwas übrig.

"Wir klagen nicht", sagt Frau Märkle. "Wir kommen zurecht." Ihr Mann bringt rund 2000 Euro netto mit nach Hause. Dazu kommt das Kindergeld. Damit muss sie haushalten. Das meiste geht für die Wohnung drauf, die abgezahlt wird. Für Nebenkosten gibt sie 309 Euro im Monat aus, für Essen und Trinken 500 Euro, 150 Euro für Sonstiges, 140 Euro für Benzin, 266 Euro für die Kindertagesstätte der Kleinen, 100 Euro für Versicherungen und 150 Euro für Kleider und Schuhe. Sparen kann man da nichts mehr. Unlängst ist ihnen die alte Waschmaschine kaputtgegangen, die jeden Tag zwölf Kilo Textilien durchschleust. Notgedrungen haben sie sich eine neue gekauft und in zehn Raten abgestottert.

"Mit Hartz IV hätten wir mehr"


"Wir hätten mehr", sagt Frau Märkle, "wenn wir Hartz IV beantragen würden". Das kommt für sie nicht in Betracht. Mit Heinz-Peter will sie es ohne Hilfe schaffen, die Kinder in Würde aufziehen. "Ihr müsst euch nicht schämen, dass ihr aus einer Großfamilie kommt", trichtert sie den Kleinen wie den Großen ein. "Ihr habt eine soziale Kompetenz, die andere nicht haben."

Manchmal wird es auch Frau Märkle zu viel. Dann sitzt sie da und heult. Es gibt Krisen, Chaos, schlechte Noten, Ausraster, finanzielle Sorgen. Wie das so ist, kommt meistens alles zusammen. Wenn es ganz schlimm wird, holt sie den Brief aus der Schublade, den ihr Frauenarzt geschickt hat, als sie das siebte Kind erwartete. "Wer sagt, es gibt keine Wunder auf dieser Erde, hat noch nie die Geburt eines Kindes erlebt. Wer sagt, Reichtum ist alles, hat noch nie ein Kind lächeln gesehen. Wer sagt, diese Welt sei nicht mehr zu retten, hat vergessen, dass Kinder Hoffnung bedeuten."

Bei Kind Nummer eins hat sie drei Tage auf der Geburtsstation im Krankenhaus gekämpft, bei Kind Nummer acht hatte sie nach drei Stunden alles hinter sich. Kind Nummer sieben war die Hölle. "Da habe ich zum ersten Mal gesagt: Ich kann nicht mehr." Christian hatte die Nabelschnur um den Hals gewickelt. Es ging noch mal gut. "Seit dieser Geburt ist es anders", sagt Frau Märkle. "Da haben wir gespürt, wie es auch laufen kann." Vielleicht hat ihr Mann deshalb leise geweint, als sie ihm erzählte, dass sich ein neuntes Kind ankündigt. "Der Heinz-Peter hat einfach Angst um mich."

Auf dem Herd köchelt das Gulasch. Frau Märkle schaut auf die Uhr. Gleich ist es vorbei mit der Ruhe. Die Türe knallt. Michael ist heute der erste. Er kommt von der Berufsfachschule. Ein bildhübscher Kerl mit tief sitzender Rapperhose. "Mama, fühl mal meine Brust", sagt er. Gestern war Training im Fitnessstudio. Plötzlich steht auch Anna-Lena in der Küche. Ihr Handy legt sie auf den Tisch. Die Realschülerin hat von jedem ihrer Geschwister ein Foto abgespeichert. Demnächst gibt es ein neues. "Kleine Kinder sind goldig", sagt Anna-Lena - "Das warst du auch mal", ätzt ihr Bruder.

Die Kinder werden langsam flügge


Im kleinen Flur hängt die nächste Jacke am Haken. Florian kommt. Er macht ein freiwilliges soziales Jahr und arbeitet als Rettungssanitäter. Frau Märkle mag seine langen, gepflegten Haare, die zu einem Zopf gebunden sind. Wenn er sie föhnt, ist das Bad samt Toilette länger blockiert. In der Wohnung gibt es nur eins. Die Kleinen duschen abends, die Großen morgens.

Frau Märkle streicht sich über den runden Bauch. "Vielleicht werden meine Kinder rückblickend sagen, dass es gut war, in einer Großfamilie aufgewachsen zu sein." Michael sitzt daneben und zuckt lässig mit den Achseln. Im nächsten Jahr beginnt er eine Lehre als Mechaniker. Wenn alles gutgeht, wird er als Erster ausziehen.