Besucher sind fasziniert von dem orientalischen Charme, der unerschöpflicher Vitalität und der inbrünstigen Frömmigkeit. Doch wer länger in der ägyptischen Mega-Metropole lebt, der braucht starke Nerven. Eine Bilanz nach neun Jahren.

Kairo - Die Pyramiden von Gizeh im Rücken, das flimmernde Kairo zu Füßen – wer sich um die Mittagszeit bei den Wahrzeichen Ägyptens aufhält, kann ein akustisches Spektakel der besonderen Art erleben. Gegen zwölf Uhr erhebt sich ein Gequake und Gesumme aus den Häuserschluchten der 25-Millionen-Metropole, das aus 100 000 Lautsprechern krächzend und pfeifend gen Himmel steigt. Munter trompeten Allahs Vuvuzelas – die guten und schlechten Sänger, die verfrühten und verspäteten – bis nach einigen Minuten langsam wieder Ruhe einkehrt.

 

Fünfmal am Tag schallt der Azzan, der Gebetsruf der Muslime, durch die Stadt am Nil, die viele Besucher mit ihrem orientalischen Charme, ihrer unerschöpflicher Vitalität und ihrer inbrünstigen Frömmigkeit fasziniert. Ganz selbstverständlich wurde während der Revolution 2011 der berühmte Tahrir-Platz zur Freiluftmoschee umfunktioniert. Auch sonst, während der normalen Freitagsgebete, strömen die Betenden stets aus ihren Gotteshäusern auf die umliegenden Bürgersteige und Fahrbahnspuren. Jeder zweite Taxifahrer lässt in seinem Auto den ganzen Tag laute Koranmusik laufen. Im Ramadan gilt das konsequente Durchmurmeln des gesamten Korans als wichtiger Schritt in Richtung Paradies. Egal ob in der überfüllten Metro, vor Hauseingängen oder auf der Bordsteinkante – an allen Ecken und Enden finden sich im islamischen Fastenmonat Gläubige – vertieft in das heilige Buch der Muslime.

Mindestens 4000 Moscheen beherbergt die ägyptische Hauptstadt plus 50 000 Minigebetsräume, Zawayas genannt. Doch immer mehr Bürger beschweren sich beim zuständigen Ministerium für religiöse Stiftungen, wenn morgens um vier mit 130 Dezibel das „Beten ist schöner als Schlafen“ des lokalen Muezzin durch ihre Wohnstraße dröhnt. Selbst die altehrwürdige Lehranstalt Al Azhar wertete die Kairoer Praxis inzwischen als „Lärmbelästigung“. Trotzdem will es nicht gelingen, dem penetranten Sendungsbewusstsein per Phonstärke einen Riegel vorzuschieben. Für Scheich Ismail Nourmani, der der „Moschee des Lichtes“ an der Nil-Corniche vorsteht, sind seine täglichen Gebetsrufe eine „heilige Pflicht“.

Kairo ist eine Stadt des Gebets und des Lasters

Auch der Nebenerwerbs-Iman Khaled von der Zawaya nahe dem Fini-Platz im Stadtteil Dokki, der drei große Lautsprecher auf dem Dach betreibt, kann die Aufregung nicht verstehen. Dass er morgens die gesamte Nachbarschaft aus dem Schlaf reißt, quittiert er mit Achselzucken. Er rufe seit 25 Jahren und würde das weitere 25 Jahre tun, wenn Allah ihm das vergönne. Und wem das nicht passe, der könne wegziehen.

Neun Jahre haben wir Khaleds blechernes Gotteslob ertragen, jetzt ziehen wir weg – von Kairo nach Tunis. Wir verlassen die Mega-Metropole, die schon beim Anflug wirkt wie eine endloser Teppich aus staubig-braunen Häuserklötzchen, durch deren Mitte sich schwarz und träge der berühmte Nil schlängelt. An Tagen, wenn die diesige Abgasglocke nicht allzu tief hängt, kann man aus der Luft sogar die Pyramiden ausmachen, das einzige noch existierende Weltwunder der Antike.

Kairo, die Stadt des Gebets und des Lasters, die Stadt der tausend Minarette und tausend Nachtclubs, die Stadt der guten Laune, der schlechten Luft und des heillosen Verkehrschaos. Schwarz qualmende Minibusse mischen sich mit ratternden Tuk-Tuks, Eselskarren mit Pferdekutschen, funkelnde deutsche Edelschlitten kreuzen zwischen Rostlauben aus den fünfziger Jahren. Dazwischen Heerscharen von Pizzafahrern auf Mopeds, die sich unter permanentem Hupen durch die Straßen wälzen. Fast jeder ist auf das Auto angewiesen, öffentliche Busse sind eine Seltenheit. „Fahr auf die Seite, Du Eselskutscher“, ist der Standardfluch hinter dem Steuer.

Eselskarren sind weiter auf den Straßen unterwegs

Kein Wunder, dass Kairos Bürgermeister seit einem halben Jahrhundert versuchen, die Eselskarren von den Straßen zu verbannen. Diese Gefährte seien ein Gefahr für den Verkehr und verbreiteten ein schlechtes Image von Ägypten, argumentierten sie. Sechs Mal nahmen die Stadtväter seit 1973 Anlauf, zuletzt 2016 – ohne jeden Erfolg. „Es stimmt, dass unsere Karren bisweilen den Verkehr behindern“, räumt einer ein, der mit seinem Vehikel in unserer Straße in Dokki Alteisen und Papier sammelt und dessen Esel nachts mit im Haus schläft. „Doch bei den ständig verstopften Straßen“, lächelt er, „kommen auch die Autos nicht mehr viel schneller voran.“

Sich in solchen Zuständen Tag für Tag durchzuschlagen, braucht ein breites Spektrum an Charaktereigenschaften. Und so sind Ägypter meist beides – liebenswürdig und verbohrt, humorvoll und aufbrausend, hilfsbereit und rücksichtslos. Ihre Nil-Metropole ist das Herz der Arabischen Welt. 2011 feierten die Bewohner auf dem Tahrir-Platz die erste Revolution seit den Pharaonen. Damals zogen die enthusiastischen Bilder des Arabischen Frühlings den gesamten Globus in ihren Bann. Kairo wurde im Nahen Osten zur Drehscheibe der Hoffnung. Heute, gut sechs Jahre später, ist nichts davon geblieben. Alle Blütenträume sind verwelkt, die altbekannte, erstickende Ohnmacht zurückgekehrt. Die Menschen auf den Straßen sind stumm und verängstigt. Mit ihren politischen Sehnsüchten haben sie sich wieder verkrochen in die virtuelle Welt von Twitter und Facebook.

Staatsschläger agierten ohne jede Skrupel

Politisch herrscht Friedhofsruhe. Mehr als 60 0000 Menschen sind hinter Gittern, hunderte Aktivisten spurlos in den Fängen des Geheimdienstes verschwunden. Das kürzlich in Kraft gesetzte NGO-Gesetz wird auch noch die Reste der Zivilgesellschaft ersticken. Selbst das renommierte „Nadeem Zentrum zur Behandlung von Opfern von Gewalt und Folter“, die einzige Hilfsadresse für Misshandelte im ganzen Land, wurde zum Aufgeben gezwungen. Seit dem Beginn ihrer Einrichtung 1993 habe es in Ägypten noch nie solche Zustände gegeben, beklagt Nadeem-Mitbegründerin Aida Seif al-Dawla beim Gespräch in ihrer Wohnung. Die Brutalität der Folter habe extrem zugenommen. In den Gefängnissen gebe es „exzessive sexuelle Gewalt“ – gegen Frauen und Männer gleichermaßen.

Die Staatsschläger agierten ohne jede Skrupel und Gewissensbisse. Sie würden sich ganz offen ihrer Untaten brüsten – getragen von einem durch die Medien und das Regime aufgehetzten öffentlichen Klima, sagt die Medizin-Professorin, die Psychiatrie an der Ain Shams Universität lehrt. „Wir werden euch die Luft zum Atmen nehmen“, habe ein Regimemitglied kürzlich zu ihr gesagt, „und das ist das, was sie tun“.

Im Kairoer Alltag merkt man von diesem politischen Brodeln noch immer wenig. Attentate richten sich vor allem auf Polizeiposten an den Rändern der Stadt. Wie eh und je herrscht in den warmen Nächten unbeschwerter Betrieb auf den Nilbrücken, wenn sich deren Gehwege in improvisierte Open-Air-Cafés verwandeln. Die Plastikstühle entlang der Geländer sind vollbesetzt, auf der berühmten Qasr-el-Nil-Brücke mit ihren vier Bronzelöwen stehen junge Paare Hand in Hand am Geländer. Musiker trotzen dem Verkehrsgetöse mit ihrer Gitarre. Daneben dösen Angler. „Ägypter sind Überlebenskünstler“, weiß Abdel-Halim Ibrahim, Architekt und Städteplaner an der Kairo Universität. Ihn wundere immer, wie Menschen unter solchen Umständen nicht nur durchhalten, sondern auch Glück empfinden können. „Für mich ist das der Kern der ägyptischen Kultur: Sie hat viele tausend Jahre erlebt und sie wird weiter überleben.“

„King Solman“ macht spezielle Geschäfte

So wie in Sichtweite der Brückenlöwen auf der Nilinsel Zamalek in dem hell erleuchteten Musiktempel, in dem sich die Vornehmen und Kulturbewussten der Stadt zu Opern und Symphonien treffen. Wer hier als Dirigent oder erster Geiger arbeitet, braucht eiserne Nerven. In jeder Vorstellung klingeln Handys, Touchscreens leuchten, Zuschauer twittern und texten, andere filmen ungeniert die Musiker auf der Bühne. Zwischendurch knallen hinten die Saaltüren, weil jemand auf Toilette muss oder ein ganzer Clan zu spät kommt und mit zittrigen Smartphone-Leuchten seine Plätze sucht. Ganz still wird es nie im halbrunden Auditorium, es sei denn, das Orchester prügelt die Unruhe einmal entschieden nieder – mit Beethovens Fünfter, Radetzky-Marsch oder Tritsch-Tratsch-Polka.

Von solchen Kulturkämpfen im Opernhaus weiß Rida al Baguri nichts, auch wenn er seit Jahren mit einem speziellen Kulturgut handelt. Früher war der 63-Jährige Offizier in der ägyptischen Armee, jetzt nennt er sich „King Soliman“. Jeden Tag um 17 Uhr, eine Stunde vor Sonnenuntergang, lässt er am kleinen Soliman Gohar Platz in Dokki das Metallrollo hochrasseln, was den Blick freigibt auf die Holzregale seines Laden, vollgestopft mit alten Radios, Grammophons und alten Uhren. Bald treffen die ersten Kunden ein, verschwinden im Inneren und verlassen den Ort wenig später schwer bepackt – in jeder Hand eine schwarze Plastiktüte. „King Solimans“ Musikaliensammlung ist nur Fassade. In Wahrheit ist er einer von mehreren hundert Alkoholhändlern ohne Lizenz, die das spärliche Angebot der 19 offiziellen „Drinkies“-Läden ergänzen. Verborgen hinter der Schiebetür lagert Rida al Baguri wandhoch die einheimischen Weine. In den beiden Kühlschränken stapelt sich das ägyptische Bier der Marken Sakkara und Stella. Dabei schwört er, noch nie nur einen Tropfen von der eigene Ware gekostet zu haben. Schließlich sei er ein guter Muslim und Alkohol im Islam verpönt. Was er über seine Kunden denke? „Ich bin nur ein einfacher Händler“, wehrt Rida al Baguri ab. „Möge Allah über meine Kunden richten“, schmunzelt er, während eine Straße weiter hoch über den Dächern Dokkis der Nebenwerbs-Imam Khaled wieder mit gewohnter Lautstärke zum Abendgebet ruft.