Jeder Gang zum Markt kann in Kabul tödlich enden. Zuhause bleiben ist aber auch keine Alternative. Eine Begegnung mit Bewohnern der afghanischen Hauptstadt, die mit der ständigen Bedrohung leben müssen.

Kabul - Der Cappuccino ist liebevoll dekoriert in dem kleinen Café in einem Einkaufszentrum in Kabul. In der gekühlten Auslage werden frische Kuchenstücke angeboten, die giftgrün oder sehr rosa glitzern. Geschmacklich unterscheiden sie sich dank Unmengen von Zucker allerdings kaum. Ahmed kommt gerne in das Lokal in der afghanischen Hauptstadt. Das hat allerdings weniger mit der kulinarischen Auswahl und dem guten Kaffee zu tun. Der 38-jährige Afghane fühlt sich in dem Café mit seinem Eingang aus dicken Stahlplatten, Panzerglas und den schwer bewaffneten Männern vor der Tür vor allem sicherer als anderswo.

 

„Niemand auf der Straße kann sehen, dass ich mich hier mit Ausländern treffe. Außerdem haben Taliban-Milizen das Café schon einmal angegriffen. Seitdem sind mehr Wächter da, es wird stärker aufgepasst“, begründet Ahmed, der seinen kompletten Namen nicht nennen will, sein Sicherheitsempfinden. Einen weiteren Grund verschweigt er allerdings: Das Gebäude beherbergt ein Hotel und deshalb mischen sich rund um die Uhr wachsame Aufpasser des afghanischen Geheimdienstes unter die Gäste. So wie in allen Hotels in der afghanischen Hauptstadt.

Ahmed hat schon zwei Selbstmordattacken überlebt

Die Gegenwart der Geheimagenten konnte Mitte Januar den Angriff auf das Hotel Interconti allerdings nicht verhindern. Ahmed gibt gerne zu, dass große Löcher in seiner persönlichen Sicherheitslogik klaffen. „Irgendwas muss man sich einreden, wenn man in Kabul nicht 24 Stunden am Tag hinter verschlossenen Türen zu Hause bleiben will.“

Vor Jahren, als er noch im Dienst der Regierung stand, überlebte er zwei Selbstmordattacken. Danach verließ er Afghanistan. Das Boot, in dem er von Indonesien nach Australien unterwegs war, wäre um ein Haar gesunken. In letzter Minuten eilte Jakartas Marine zu Hilfe. Als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, erlitt er eine Herzattacke. Gegen den ausdrücklichen Rat eines entfernten Verwandten, der einen hohen Regierungsposten innehat, kehrte Achmed in seine Heimat Kabul zurück. „Du bist verrückt“, lautete der Kommentar des Verwandten.

Millionen von Afghanen, die in Kabul leben, haben diese Wahl zwischen Exil und Rückkehr nicht. Aber viele können Geschichten erzählen, wie sie selbst oder ein Bekannter dem Tod von der Schippe gesprungen sind. Manchmal entpuppen sich die schlimmsten Befürchtungen jedoch als harmlos. Abdul, der Fahrer eines gelb-weißen Sammeltaxis, fand in seinem Fahrzeug eine prall gefüllte Tasche. Ein Passagier hatte sie zurückgelassen. „Niemand wollte helfen, alle hatten Angst“, erzählt er. Und er entdeckte beim Öffnen der Tasche auch noch ein Kabel. „Ich dachte, es sei eine Bombe“, erzählt er und lacht, „aber es war nur Computerzubehör.“

Der Weg zum Markt für durch Feindesland

Der Weg zum Markt oder zur Arbeit ist in Kabul lebensgefährlich, mit der alltäglichen Bedrohung durch Selbstmordattentäter müssen die Bewohner leben. „Was sollen wir denn tun: Verhungern, um den Selbstmordattentätern zu entgehen?“, fragt Mukhtar Shah. Der 28-Jährige ist Vater von drei Kindern und nimmt an jedem religiösen Fest der Hazaras teil. Dabei werden die Umzüge dieser Volksgruppe regelmäßig von Anhängern der Terrororganisation Islamischer Staat attackiert. Mukhtar Shah gehört zu den konservativen Afghanen, die ihre Ehefrauen am liebsten gar nicht aus dem Haus lassen. Deshalb geht er selbst einkaufen. Der Weg von seinem Haus im Stadtviertel Dasht-e-Barchi zum Markt am Kabul-Fluss führt an einer Art Feindesland vorbei.

Nach Jahrzehnten des Kriegs ist das Stadtgebiet von Kabul streng nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeteilt. Die schiitischen Hazaras leben im Westen der Hauptstadt. Die Paschtunen haben sich im Südosten rund um die Ausfallstraße angesiedelt. Die Tadschiken und Usbeken wiederum leben im Norden der Hauptstadt.

Die Barrikaden sichern die Soldaten, nicht die Bewohner

Wie ein Fremdkörper entstand über die vergangenen Jahren im Zentrum zudem die Grüne Zone, ein Gebiet, in dem sich das Hauptquartier der 14 000 ausländischen Soldaten – Söldner und Spezialeinheiten nicht eingerechnet – befindet. Sie haben sich in der Hochsicherheitszone verbarrikadiert, hinter hohen Mauern und kiesgefüllten Barrikaden. Mukhtar Shah, der seinen Lebensunterhalt als Händler verdient, kümmert sich wenig um diese streng abgeschirmte Welt, in der auch die wichtigsten Institutionen der afghanischen Regierung Zuflucht gesucht haben. „Wir können im Alltag nicht immer vermeiden, irgendwo in der Nähe dieser Abwehrmauer unterwegs zu sein“, sagt er. „Die meisten Selbstmordattentäter können weder die Barrikaden überwinden noch die Wachen ausschalten. Darum sprengen sie sich in der Nähe in die Luft, und die normalen Bewohner sind die Opfer.“

Nach dem Attentat nahe der deutschen Botschaft im Mai des vergangenen Jahres lautete die Losung, möglichst den Berufsverkehr zu meiden. Denn dann nimmt das Verkehrschaos in Kabul dermaßen überhand, dass selbst die strengsten Polizisten irgendwann Fahrzeuge einfach durchwinken, um die Autoknäuel aufzulösen.

Das Notfallpaket steckt im Hemd

Das blutige Attentat mit rund 100 Toten am letzten Januarwochenende nahe einem Krankenhaus und in einer Straße voller Geschäfte hat die schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Jeder Einkauf kann tödlich enden“, sagt Mukhtar Shah. In seinem weiten Hemd trägt er deshalb eine Brieftasche mit den wichtigsten Informationen bei sich: Ein Zettel mit der Blutgruppe für schnelle Erste Hilfe. Ein weiterer Zettel mit den wichtigsten Telefonnummern von Verwandten und Freunden. Sein in Plastik eingeschweißter Ausweis gehört ebenfalls zum Notfallpaket. So will Mukhtar sicherstellen, dass er nach einem Anschlag identifiziert werden kann – auch wenn sein Köper von einer Bombe in Stücke gerissen werden sollte. „Das Bargeld ist in einem anderen Portemonnaie. Das wird von Helfern sicher gestohlen“, sagt der Familienvater, „aber ich will vermeiden, dass meine Dokumente ebenfalls spurlos verschwinden.“

Auf dem Land ist das Leben noch bedrohter

Trotz der weitverbreiteten Furcht vor Anschlägen und oft hilflos anmutenden Vorsichtsmaßnahmen zieht Kabul Monat für Monat mehr Menschen aus ganz Afghanistan an. Mehr als eine Viertelmillion Afghanen verloren im vergangenen Jahr wegen des Konflikts ihre Heimat und ließen sich anschließend in der Hauptstadt nieder. Auf dem Land ist das Leben noch gefährlicher als in der Hauptstadt: Von den täglich zehn Zivilisten, die laut den Vereinten Nationen während der ersten neun Monate des vergangenen Jahres dem Konflikt zum Opfer fielen, starben die meisten auf dem Land.

Unter dem Druck der Offensive der Taliban-Milizen verstärkte sich zudem ein alter Trend. Weil die Lage auf dem Land unsicher ist und die Unberechenbarkeit der Regierungsgegner kaum Grenzen kennt, schicken Eltern, die es sich leisten können, ihren Nachwuchs zum Schulunterricht auf eines der Internate, die in Kabul seit dem Jahr 2001 aus dem Boden schossen. Zurück bleiben die Armen.

Die Terroroffensive in Kabul während der vergangenen Tage hat auch die Mittelklasse getroffen. „Ich warte einfach“, sagt Ahmed, „vielleicht passiert etwas, vielleicht auch nicht.“ Dann trinkt er seinen Kaffee zu Ende, packt die Zigaretten ein und macht sich auf den Weg in Kabuls Menschengewimmel.