Funktionale Analphabeten können im Nachhinein qualifiziert werden, sagt Stefan Küpper von Gesamtmetall. Das lindere auch den Fachkräftemangel.

Stuttgart - Viele Analphabeten machen einen guten Job und könnten höher qualifiziert werden, sagt Stefan Küpper vom Bildungswerk der Wirtschaft.

 
Herr Küpper, in Baden-Württemberg leben eine Million funktionale Analphabeten. Das spricht nicht für unser Bildungssystem.
Auch wenn nicht alle diese Menschen unser Schulsystem durchlaufen haben, so gibt es da in der Tat ein Problem, das sich noch verschärft, wenn wir die Erkenntnisse der jüngsten Schülerleistungsvergleiche betrachten. Wir als Wirtschaft verlangen verbindliche Mindeststandards für die Kompetenzen von Schulabgängern.
Das gehört doch zu den Kernaufgaben der Bildungspolitik. Dafür werden Steuern gezahlt.
Ich glaube, die Botschaft ist inzwischen angekommen, dass mehr Qualität in die Bildungspolitik muss. Wir brauchen ein verbindliches System- und Qualitätsmanagement sowie messbare Erfolgsindikatoren für Bildungsreformen und weniger glaubensbasierte Debatten, zum Beispiel über die Vor- und Nachteile von gegliederten und integrierten Schulsystemen. Wir stehen ja vor mehreren Herausforderungen. Eine gute Basis für den Bildungsweg der jungen Leute in den Schulen zu legen, ist das eine. Es gilt aber auch, die Menschen mitzunehmen, die schon länger aus der Schule raus sind und bei denen das in der Vergangenheit nur unzureichend gelungen ist. Dazu kommen noch die Flüchtlinge, die wir zum Teil von Grund auf alphabetisieren müssen.
Welchen Ansatz verfolgen sie?
Viele Menschen, die wir als funktionale Analphabeten bezeichnen, sind in Arbeit. Sie wollen wir zum Beispiel mit dem von der Wirtschaft konzipierten Projekt Alpha Grund am Arbeitsplatz abholen. Funktionales Analphabetentum ist ein Tabuthema. Es gibt viele Vermeidungsstrategien, mit denen die Menschen versuchen, nicht aufzufallen. Da kann man Ausreden hören wie etwa: Ich habe meine Brille vergessen, kannst du das für mich lesen?
Wie verbreitet ist das Phänomen?
Das sind keine raren Einzelfälle. Das gilt vor allem für den Bereich un- und angelernte Beschäftigung. Gleichzeitig bedingen schon die hohen Anforderungen des Arbeitsschutzes, dass man Geschriebenes verstehen muss. In der frühen Bundesrepublik verließen noch 15 bis 20 Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss. Heute ist diese Quote viel niedriger, in Baden-Württemberg liegt sie bei fünf Prozent. Das Problem ist nur: 80 Prozent der funktionalen Analphabeten haben durchaus einen Schulabschluss. Ein Unternehmen kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass ein Bewerber mit Hauptschulabschluss richtig lesen und schreiben kann, kurzum, dass er der Sprache ausreichend mächtig ist.
Ist die Alphabetisierung ein Instrument, um dem Fachkräftemangel zu begegnen?
Wir haben einen Boom auf dem Arbeitsmarkt mit Fachkräfteengpässen in immer mehr Bereichen. Da ist es klug, in alle Potenziale zu investieren, die man noch hat. Vor allem, wenn die Betreffenden schon in Beschäftigung sind. Die machen oftmals einen guten Job, die können auch für höherwertige Tätigkeiten qualifiziert werden. Insofern ist die Alphabetisierung eine Investition, die eine hohe Rendite erbringen kann. Denn mit der Fähigkeit, unfallfrei lesen und schreiben zu können, stehen diesen Beschäftigten neue Wege offen. Dann kann der Grundbildung eine berufliche Qualifizierung folgen bis hin zum Facharbeiterabschluss. Diese Modelle haben wir alle, die setzen wir auch erfolgreich um. Das können auch Menschen in ihren 40er- oder 50er-Lebensjahren sein. Wenn jemand Anfang 50 ist, hat er noch mindestens 15 Jahre seines Arbeitslebens vor sich. Wir brauchen dringend jede qualifizierte Hand.