Auf offener Straße wird eine Kopftuch tragende muslimische Bloggerin in Stuttgart wüst beschimpft. Nicht zum ersten Mal - „aber diesmal ist etwas Unglaubliches passiert“, berichtet Merve Kayikci.

Digital Desk: Jonas Schöll (jo)

Stuttgart - Wüste Beleidigungen auf offener Straße sind für Merve Kayikci eigentlich nichts Überraschendes mehr. Die 22-jährige muslimische Studentin und Bloggerin aus Stuttgart trägt einen Hidschab. Und sie weiß genau: Ihr Kopftuch ist für viele Menschen in Deutschland mehr als nur ein Stück Stoff. Es ist für viele – nicht erst seit dem Anschlag in Berlin im Dezember – eine Kriegserklärung. „Auf jeden Fall macht es uns immer wieder zur Zielscheibe für Hass und noch öfter für Ausgrenzung“, sagt Kayikci.

 

Doch als die junge Muslima am vergangenen Montag in der Stuttgarter S-Bahn von einer älteren Frau aus heiterem Himmel als „Bombenlegerin“ beschimpft wird, ist auf einmal alles anders. „Diesmal ist etwas Unglaubliches passiert“, schreibt Kayikci in ihrem Blog, in dem sie über den Vorfall berichtet. Ihr Erlebnis packt sie auch in 140 Zeichen auf Twitter. Der Tweet sorgt im Internet für Aufsehen - und offenbart ganz unterschiedliche Reaktionen.

Tweet erregt Aufsehen

Die kurze Nachricht vom vergangenen Montag lautet: „S-Bahn ist ausgefallen, dann kommt noch ne Frau und beschimpft mich als Bombenlegerin. Sieben fremde Leute stehen auf und verteidigen mich!“ Bis Mittwochnachmittag wird der Tweet rund 300 Mal geteilt und erntet an die 2000 Gefällt-Mir-Angaben in dem Kurznachrichtendienst.

Auch etliche direkte Antworten erhält Kayikci auf ihren Tweet – darunter sind auch einige negative Reaktionen. Was sie schreibt sei ausgedacht, es handele sich um Fake News, mit der sie sich nur als Opfer darstellen wolle, lauteten einige der Vorwürfe. „Sie sind wahrscheinlich keine Bombenlegerin. Sie unterstützen nur Bombenleger“, schreibt einer der Nutzer. „Die Opferrolle jedenfalls beherrscht ihr ganz gut. Damit erreicht ihr auch ne Menge. Bedauerlicherweise“, heißt es in einem anderen Tweet.

Doch es wird schnell deutlich: Die meisten Menschen freuen sich mit der Muslimin – und loben die Zivilcourage der Menschen, die sie verteidigt haben „Wunderbar, dass Ihnen so viele Menschen beigestanden haben. Aber bedrückend, dass es nötig ist“, bringt ein Nutzer viele Meinungen auf den Punkt. „Danke, ein Tweet, der Mut macht und Vertrauen in die Menschheit weckt“, schreibt ein anderer Nutzer.

Merve Kayikci alias „Primamuslima“ schildert die Ereignisse dieses Tages detailiert in ihrem Blog. Gegen acht Uhr steigt die 22-Jährige demnach aus der S6 an der Haltestelle Schwabstraße in Stuttgart aus, sie ist auf dem Weg zur Uni und in Eile. Dann passierte es: „Bombenlegerin“, schmetterte ihr eine Frau an der Haltestelle unvermittelt entgegen. „Weghören“, denkt Kayikci zuerst. „Doch in dem Moment hatte ich keine Lust still zu sein und das runterzuschlucken“, erinnert sie sich am Mittwoch.

Etwas „Unglaubliches“ passiert

Auf ihre Frage „Entschuldigung, sprechen Sie mit mir?“ hin sei die Situation eskaliert. Denn natürlich war Kayikci gemeint. Wer denn sonst? Sei sie doch die Einzige weit und breit, die ein Kopftuch trägt. Wutentbrannt habe sie die ältere Frau aufgefordert, ihr Kopftuch abzulegen. „Sie hat mich gefragt, warum ich hier hergekommen bin. Warum wir alle hier herkämen. Mir unterstellt ich würde Deutschland zerstören wollen“, berichet die Muslimin weiter.

Die Beleidigungen wollen kein Ende nehmen: „Das wären meine Leute gewesen in Berlin. Wir würden Deutschland kaputt machen. 90 Prozent der Muslime würden von Hartz IV leben“, zitiert Kayikci die aggressive ältere Frau.

Unlängst beklagt der Zentralrat der Muslime, dass die Anfeindungen gegen Muslime stark zugenommen haben. Die Angriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln und der Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt tragen nicht dazu bei, dass sich das Bild von Muslimen in den Köpfen der Bürger ändert.

Doch an diesem Tag geschieht etwas, womit die Muslimin ganz und gar nicht gerechnet hat: „Völlig fremde Menschen standen für mich ein!“, schreibt Kayikci in ihrem Blogeintrag. Insgesamt hätten sich an die sieben Menschen an der Haltestelle eingemischt, der jungen Studentin beiseite gestanden und sie gegenüber der aufgebrachten Frau verteidigt. „Sie sagten der Frau, sie könne jetzt doch nicht mich beschimpfen und verantwortlich machen für das alles. Sie verteidigten mich.“

Ein besonderer Moment

„Das war für mich ein besonderer Moment“, erzählt Kayikci. Sie habe gemerkt, dass sich etwas im Land verändert: „Heute ist für mich die ‚schweigende Masse’ aufgestanden“, schildert sie. In ihrem Blog schreibt die Muslimin, wie sehr sie die pauschalen Anfeindungen und Vorurteile einiger Menschen gegen Muslime verletzen. „Es tut weh, weil ich weiß, dass sehr, sehr viele Menschen so denken. Deutschland ist meine Heimat. Die Leute werden nie verstehen, dass ich keine andere Heimat habe.“

Die Unterstützung die Kayikci an diesem Tag erlebt hat, macht der jungen Muslimin Hoffnung und gibt ihr ein positives Gefühl für die Zukunft. Es ist das Gefühl, dass es keine Mauern zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gibt, dass Menschen für einander einstehen und Hass keine Chance geben.