Der Altdorfer Hans Bäurle ist 88 Jahre alt und malt immer noch fast 40 Bilder im Jahr. Seit geraumer Zeit verliert er sein Augenlicht. Wie lebt ein Künstler, wenn sein wichtigstes Sinnesorgan immer schwächer wird?

Altdorf - Die Brillengläser des Künstlers Hans Bäurle sind so dick wie eine Zeitungsausgabe. Wenn er die Brille aufsetzt und sich nach vorne zu einer Malstaffelei beugt, der Hals gestreckt, die Leinwand nur wenige Zentimeter von der Nase entfernt, sieht er die Farben tanzen. Er erkennt auf dem Bild schemenhaft Konturen und leuchtende Kreaturen. Er sieht Striche, Wellen, Formen – Augen, Münder, Blumen und wie sie zueinanderstehen, sieht er kaum. Die Welt des Hans Bäurle erscheint ihm nach seiner Augenkrankheit verschwommen wie hinter einem Schleier. Es ist verblüffend, wie er diesen lüftet.

 

Hans Bäurle ist seit mehr als einem halben Jahrhundert einer der wichtigsten Künstler im Landkreis Böblingen. Seine Werke hängen in Museen, Kirchen, Ämtern. Etwa 3000 Bilder hat er gemalt, an die hundert Plastiken geformt. Und während sich die meisten Künstler in ihren jungen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Schaffensphase befinden und sich im Alter auf Kreuzworträtsel besinnen, ist Hans Bäurle auch mit 88 Jahren unermüdlich. Fast täglich sitzt er vor der Leinwand in seinem Atelier in Altdorf und malt – etwa 40 Bilder im Jahr.

„Ich sehe sie“

In einer mit Farbe befleckten Arbeitshose empfängt Hans Bäurle seine Gäste. Das Haus wirkt wie ein Museum. Überall hängen Bilder, stehen auf dem Boden. Im sich weit nach oben öffnenden Atelier dringt Licht durch eine breite Fensterfront. Hunderte von Pinseln ragen aus Metalldosen heraus. An einer Wand steht ein Stuhl, darauf sitzt, etwas kauernd, die Hände im Schoss, der Bäurle und lächelt genauso bubenhaft wie auf alten Fotografien, die sich von ihm im Internet finden. „Doch, doch, ich sehe Sie“, sagt er. „Ich kann nicht genau sagen, wie sie aussehen, aber ich sehe, dass Sie da sind.“

Vor etwa 15 Jahren diagnostizierten Ärzte bei ihm eine Makula-Degeneration, eine häufige Form der Teilerblindung, die besonders im Alter auftritt. Betroffen ist jene Stelle der Netzhaut, wo das scharfe Sehen erzeugt wird. Seither liest er keine Bücher. Schaut kein Fernsehen. Am Anfang ist es ein Schock – ein Maler, der nicht sieht? Das klingt wie ein Musiker, der nicht hört oder wie ein Fußballspieler, der nicht rennt. Hans Bäurle erfindet sich neu. Das fällt ihm nach so vielen Jahrzehnten, in denen er seine Herangehensweise an die Kunst veränderte, nicht schwer. Vielleicht kommt es davon, dass er nach dem Krieg zunächst als Maler ausgebildet wurde und Kunstmachen als Handwerk definiert. Bei Willi Baumeister lernte er in Stuttgart die abstrakte Kunst. Später versuchte er sich mit runden Formen an der Wandmalerei, an Siebdrucken, Plastiken. Bäurle führt nun durch das Haus, zeigt die Werke. Seine Füße trippeln schnell durch die Flure.

Überall Augen

Die Vielseitigkeit seiner Werke beeindruckt. Sie erweist sich auch als ein Erfinder in der Not. Nach der Augenerkrankung trägt er die Ölfarbe pastos auf, im zähflüssigen Zustand. Die Farbe trocknet langsamer, er gewinnt Zeit, um mit einer Lupe und fünf verschiedenen Brillen das Werk fertigzustellen. Er redigiert nichts, malt das Bild in einem Zug, als hätte er ein inneres Koordinatensystem. „Wenn ich die Krankheit früher bekommen hätte, würde ich heute nicht so arbeiten können. Die lange Erfahrung war wichtig“, sagt er und setzt sich wieder an die Staffelei. Mit dem Pinsel tupft er einige Farben auf die Leinwand, lehnt seinen Oberkörper wieder ganz nah an das Bild.

Auf seinen Gemälden blicken dem Betrachter verwunschene Wesen entgegen. Tierähnliche Gestalten mit Fingern und Gefieder. Alles hat Augen: Blumen mit Augen, Bäume mit Augen. Immer wieder fragen andere, ob es seine Augen sind, die er malt. Trauert hier ein Künstler seinem wichtigsten Sinnesorgan hinterher? Hans Bäurle verneint. „Ich möchte die Natur anders zeigen“, sagt er. Er personifiziert sie, zeigt die Nähe der Pflanzen und Tiere zum Menschen. „Es ist auch mein Beitrag für die Umwelt“, sagt er schmunzelnd.

„Was meine Generation der Umwelt angetan hat, ist furchtbar“

Als Kind auf einem Bauernhof auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen, war er stets nah zur Natur, erzählt er. Je älter er wird, desto wichtiger wird sie wieder für ihn. „Was meine Generation der Umwelt angetan hat, ist furchtbar. Das ändert sich nun mit den Jungen, die auf die Straße gehen und für das Klima demonstrieren.“

Er trauert nicht seinem Augenlicht hinterher, das erlischt. Hans Bäurle ist zufrieden, dass er „arbeiten darf“. Er hört nun Hörbücher, die er in der Blindenbibliothek in München bestellt. Seine Frau liest ihm aus der Zeitung vor oder erzählt, was man im Fernseher sieht. Er malt.