Die Stuttgarter werden immer älter. Zwei 100-Jährige erzählen, wie es ist, wenn das Alter plötzlich dreistellig ist und warum sie in Zeiten wie diesen gar nicht mehr jung sein wollen.

Filder - Who wants to live forever – wer möchte ewig leben? Das wollte die Band Queen 1986 wissen. Womöglich würde Ruth Fischle spontan mit einem „Ich“ antworten. Denn sie ist 100 – und dabei bestens aufgelegt. „Der Kopf ist gut, der weiß noch alles“, sagt sie und strahlt wie ihr sonnengelbes Lieblingsshirt. Ruth Fischle liest gern und viel. Die einstige Mitarbeiterin des Sozialamts lebt in der Sillenbucher Seniorenresidenz Augustinum in einer netten kleinen Wohnung – seit 21 Jahren schon – und macht das meiste noch selbst.

 

Mit dem Rollator geht’s zum Müllrausbringen oder zum Einkaufen, „heute Abend mache ich mir ein Spiegelei“. Nur beim Beziehen der Matratze brauche sie Hilfe. Ernsthaft krank gewesen sei sie nie, und auch heute plage sie nur der Rücken, dafür aber gescheit. „Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, ich kann das nicht“, betont sie.

Dieser Rekord macht auch einsam

100 zu werden, das scheint ja spitze zu sein, und immer mehr Menschen haben das Vergnügen. Das liegt unter anderem am medizinischen Fortschritt, der gesünderen Ernährung, höheren hygienischen Standards und besseren Arbeitsbedingungen. Die Zahlen des statistischen Amtes der Stadt Stuttgart zeigen: Der Ü-100-Club wächst. Zum 30. Juni waren 112 Super-Alte gemeldet, 99 davon übrigens Frauen. Zum Vergleich: Erreichten 1972 nur vier Personen dieses Alter, waren es zehn Jahre später schon 16, wieder zehn Jahre später 38, und 2002 waren 62 Stuttgarter älter als 100.

Doch Rekorde machen auch einsam. „Die Familie ist immer kleiner geworden“, sagt Ruth Fischle. Auf einem Schränkchen stehen Fotos der vier Brüder, die alle nicht viel älter als 80 geworden sind, und der Tante, die mit 97 in Ruth Fischles Arm gestorben ist. „Als meine Mutter früher Geburtstag gefeiert hat, waren immer 18 Leute da“, heute ist ihr nur ihr lieber Neffe geblieben, von dem sie so schwärmt, sowie dessen Familie, außerdem eine Schwägerin und eine Arbeitskollegin. Ruth Fischle hat sie alle überlebt. „Man muss es hinnehmen. So ist das Leben“, sagt die Seniorin.

Das Alter fordert seinen Tribut

Auch Charlotte Glück hat in diesem Jahr das biblische Alter erreicht und kann es noch immer nicht recht glauben. „Jetzt bist du 100 Jahre alt“, sagt sie und streift sich übers Gesicht. Erwartet habe sie das nicht, „aber ich kann nicht sagen, dass ich das Gefühl habe, es ist verkehrt“, sagt sie und lächelt. Auch Charlotte Glück macht manches noch selbst. Nach Kräften. Sie malt Bilder, wenn auch nicht mehr so oft. Sie liest und befasst sich mit der Anthroposophie, wenn auch nicht mehr so gründlich. „Man wird langsamer“, sagt sie. 1993 ist sie von Gablenberg ins Nikolaus-Cusanus-Haus in Birkach gezogen. Viele Jahre war sie dort noch ihrem Hobby nachgegangen: der Gartenarbeit.

Das Alter fordert seinen Tribut. Charlotte Glück hört schlecht, für vieles fehlt die Kraft. Auch mit den Erinnerungen geht es teilweise etwas durcheinander. Kein Wunder eigentlich, so viele, wie es inzwischen sind. Eine der präsentesten davon: der Zweite Weltkrieg, der ihr den Bruder nahm und den Mann. „Nachdem der Krieg die Familie so zerstört hat, sind mir viele Aufgaben zugefallen“, erzählt sie. Dabei hatte Charlotte Glück zuvor Karriere gemacht. Mit gerade mal 19 galt sie als jüngste Filialleiterin in der Lebensmittelbranche in Baden-Württemberg. Später sattelte sie auf Grafologin um. Wieder geheiratet hat Charlotte Glück nicht. Aber sie sagt: „Ich habe die Zeit immer ausgefüllt.“

Der politische Rechtsruck bereitet ihr Sorgen

Auch Ruth Fischle war nie verheiratet, aber „ich war mit allem zufrieden“, berichtet sie. Sie sei viel gereist, ans Nordkap und durch Skandinavien zum Beispiel, „ich bin überall gewesen“. Den Zweiten Weltkrieg hat sie heil überstanden. „Als der Hauptbahnhof zusammengeschmissen worden ist, saß ich im Zug im Rosensteintunnel. Vorne und hinten fielen die Bomben.“ Tue Recht und scheue niemanden, das sei immer ihr Motto gewesen. Ein Motto oder einen wirklichen Tipp fürs Altwerden haben die beiden Frauen aber nicht. „Ich habe immer vernünftig gelebt, nie geraucht, keinen Alkohol getrunken, aber als Kind sehr viel Milch“, betont Ruth Fischle. Bei Charlotte Glück liegt das Altwerden wohl in den Genen. Die Mutter ist mit 105 gestorben. Auch ihre beiden Schwestern leben noch.

Ruth Fischle sagt: „Ich möchte heute nicht jung sein.“ Die Welt verstehe sie heute nicht mehr. Die Gesellschaft, die Gleichgültigkeit vieler, den politischen Rechtsruck. „Das sind lauter Leute, die nicht im Krieg waren“, glaubt sie. Sie kritisiert die Verschwendungssucht und die Unzufriedenheit der Menschen heutzutage. „Verzicht kennen die Kinder heute nicht mehr“, sagt sie. Welche Wünsche hat man, wenn man 100 ist? Nur Gesundheit, sagt Ruth Fischle. „Nicht bettlägerig werden. Da passe ich auf“, betont sie. Auch Charlotte Glück hofft nur, „dass ich einigermaßen gesund bleibe. Bis auch ich gehen muss“.