Die meisten wünschen sich, gesund alt zu werden und möglichst lange selbstbestimmt zu Hause zu leben. Im Interview erklärt der Altersmediziner Clemens Becker, welchen Einfluss jeder Einzelne darauf hat, wie er altert, wie man Warnsignale deutet und wo die Forschung derzeit steht.

Feuerbach - Viele Menschen, die über den Ruhestand nachdenken, wünschen sich, gesund alt zu werden und möglichst lange zu Hause zu leben. Ins Pflegeheim möchte niemand. Professor Clemens Becker ist Forschungsleiter der Abteilung Geriatrie und Geriatrische Rehabilitation des Robert-Bosch-Krankenhaus. Im Interview erklärt der Mediziner, welchen Einfluss jeder Einzelne darauf hat, wie er altert, wie man Warnsignale deutet und wo die Forschung derzeit steht.

 

Herr Becker, ich habe vier Jahrzehnte gearbeitet, stehe kurz vor der Rente. Am liebsten will ich mich nun ausruhen und nichts mehr machen. Ist dies eine gute Idee?

Diese Umstellung ist einer der wichtigsten Einschnitte im Leben. Man muss sich ernsthaft Gedanken machen, wie man diesen Wechsel gestaltet. Das betrifft die Gesundheit und die Prävention. Es gibt viele Menschen, die schon während des Arbeitslebens Symptome haben, diese jedoch ignorieren, bis zur Rente warten und dann innerhalb kürzester Zeit schwer erkranken und wenige Jahre später gar sterben. Das Zweite ist, dass mit dem Wegfall der Arbeit auch die körperliche Aktivität sinkt. Man muss schauen, dass man da nicht auf dem Sofa endet. Fünf bis zehn Kilo sind schnell zugenommen. Es ist wichtig, sich frühzeitig Rat von außen zu holen.

Man unterschätzt also die Alltagsbewegung, etwa die Treppen, die man vorher jeden Tag hoch und runterging?

Absolut. Ich gehe als Arzt in acht Stunden 10 000 Schritte. Ich sitze nicht am Computer, weil ich auf die Stationen gehe. Das ist ein gewisses Privileg. Für alle, die überwiegend Schreibtischtätigkeiten haben, gilt: nach 45 Minuten Schreibtisch wird das Ganze gefährlich und toxisch.

Zweimal die Woche Sport zu treiben, reicht das also nicht, wenn ich täglich acht Stunden sitze?

Es ist natürlich gut, wenn man Sport treibt. Sitzt man am Tag jedoch mehrere Stunden, ist das etwas, was abends nicht mehr einzuholen ist. Diese Evening- oder Weekend Warrior (Abend- oder Wochenend-Krieger, Anm. der Red.) glauben, mit dem zehn Kilometerlauf am Wochenende alles auszugleichen. Das funktioniert so aber nicht. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass man nach 45 bis 60 Minuten unbedingt aufstehen sollte. Selbst, wenn es nur wenige Schritte sind. Man muss nicht immer sitzen, viele Besprechungen kann man auch beim Spazierengehen machen.

Fragt man Menschen nach ihrem Wunsch fürs Alter, sagen die meisten, dass sie möglichst lange unabhängig zuhause leben und nicht ins Pflegeheim möchten. Was muss man tun, um das zu gewährleisten?

Die Babyboomer, die zwischen 1950 und 1964 geboren wurden, werden nach und nach bis 2030 in Rente gehen. Diese Generation wird überwiegend sagen: Pflegeheime sind nichts für uns. Für diese Leute geht es um Primärprävention. Um es ganz klar zu sagen: ausreichende Bewegung ist absolut erforderlich. Wer mit Herzkrankheit, Diabetes, Arthrose sich nicht ausreichend bewegt, wird seinen Gesundheitszustand mit keiner Medikation der Welt stabilisieren können. Die Ernährung ist wichtig, aber auch die kognitive und emotionale Gesundheit. Das sind die vier Sachen, die Menschen selber in die Hand nehmen müssen.

Und die, die das nicht selbst können?

Um das zu quantifizieren: Ungefähr 50 Prozent der Leute in dieser Altersgruppe um die 65 werden in den nächsten zehn Jahren überhaupt keine Probleme entwickeln. Zehn Prozent haben schon jetzt gravierende chronische gesundheitliche Probleme. Interessant ist die dritte Gruppe. Das sind die Leute, die potenziell ihre Selbstständigkeit verlieren könnten. Und die muss man erkennen.

Wie kann das gelingen?

Um an dem Beispiel Bewegung zu bleiben. Eine einfache Methode zu erkennen, ob man gefährdet ist, ist die Messung der Gehgeschwindigkeit. Das ist ganz simpel: Wer für zehn Meter Gehen länger als zehn Sekunden brauchen, hat ein Problem. Wenn man es zudem nicht schafft, innerhalb einer halben Minute mindestens zehnmal nacheinander von einem Stuhl aufzustehen, hat man ebenfalls ein Problem. Das dritte ist der Body-Mass-Index. Diese drei Dinge zusammen reichen aus, um bei den meisten Menschen zu erkennen, dass gravierende Probleme im Anmarsch sind. Vielleicht nicht heute und nicht morgen, aber in den nächsten drei bis zehn Jahren.

Derzeit steigt die durchschnittliche Lebenserwartung mit jedem Jahrzehnt um etwa 2,5 Jahre. Jede neue Generation lebt also im Schnitt 7,5 Jahre länger. Welche Qualität hat die dazugewonnene Lebenszeit?

Die Forschung zeigt aktuell, dass die dazugewonnene Lebenserwartung in Europa bislang gute Lebensjahre waren. Deutschland ist in Europa mit Abstand nicht das Land mit der höchsten Lebenserwartung. Interessant ist, dass die Mittelmeerländer, obwohl sie oft nicht einmal die Hälfte für das Gesundheitssystem ausgeben, eine deutlich höhere Lebenserwartung haben. Wenn man Italien oder Spanien betrachtet, ist die Lebenserwartung mit drei Jahren mehr wesentlich höher als bei uns.

Warum ist das so?

Es gibt drei Gebiete von denen wir lernen können. Das eine sind die sozialen Strukturen. Die Menschen kommunizieren viel mehr in der Nachbarschaft und in ihren Familien. Die sozialen Netzwerke sind wesentlich besser als nördlich der Alpen. Es scheint so zu sein, dass die soziale Bindung der Menschen untereinander für die Gesundheit ungeheuer wichtig ist. Das Zweite häufig zitierte, ist die Mittelmeerdiät. Ich halte dies aber nur für begrenzt bedeutsam und für überschätzt. Viel wichtiger ist, dass Menschen im Mittelmeerraum zwischen Oktober und März viel besser draußen spazieren gehen können. Sie bewegen sich mehr, als wir es tun in der kalten Zeit.

Sie forschen auch im Bereich der Sturzprävention . . .

. . . die meisten älteren Menschen können mit dem Begriff Sturz überhaupt nichts anfangen. Wir versuchen ihn daher zu vermeiden. Wenn wir die Leute anreden wollen, sprechen wir meistens von Hinfallen oder Stolpern. In den letzten fünf Jahren hat sich gezeigt, dass die Hälfte der Leute sagt, sie seien bereit in der Gruppe zu trainieren, um ihre Balance zu verbessern.

Für wen ist das wichtig?

Menschen ab 70, die zweimal oder mehr unbeabsichtigt hinfallen, ohne dass da eine Besonderheit war, die sollten sich unbedingt kümmern, um schwere Verletzungen wie den Oberschenkelhalsbruch zu verhindern. Das ist kein Spaß. Die Hälfte der Patienten kommt nach diesen schweren Knochenbrüchen nicht mehr richtig auf die Beine. Zehn Prozent landen im Pflegeheim – gegen ihren Willen.

Welche Präventionsoptionen gibt es?

Neu sind Gruppenprogramme. In Stuttgart gibt es einige Angebote wie Fit ab 50, das wir mit dem Amt für Sport und Bewegung erarbeitet haben. Zudem listet die zentrale Prüfstelle Prävention auf ihrer Internetseite 400 000 Angebote in ganz Deutschland.

Was kann man tun, wenn man nichts in der Gruppe machen will?

Es gibt zwei Programme, die nach und nach eingeführt werden. Das eine ist ein Angebot namens Life integrated Functional Exercise (LiFE). Das haben wir hier im Stadtteilgebiet in Weilimdorf mit ungefähr 200 Leuten begonnen. Ein Therapeut bringt Menschen zuhause bei, wie man seinen Alltag verändert, um integriert zu trainieren. Der Klassiker ist beispielsweise, immer mit einem Bein aufzustehen statt mit beiden. Das ist so wirksam wie die Beinpresse. Es gibt 500 Möglichkeiten, wie man im Alltag trainieren kann, ohne in den Sportverein zu gehen. Ein anderes, das wir jetzt mit der AOK vorbereiten und das in ganz Baden-Württemberg eingeführt wird, ist das Programm Sichere Mobilität im Alter (SiMoA). Es ist für die Menschen, die ganz klapprig sind und kaum noch ihre Wohnung verlassen. Zu denen kommt der Physiotherapeut nach Hause.

Wie merkt man eigentlich, ob der Gang unsicherer geworden ist?

Um das subjektive Gefühl ein Stück weit zu konkretisieren, sollte man einmal im Jahr seine Eltern oder den Partner beim Gehen filmen und das Video mit dem Hausarzt mal anschauen. An diesen Videos sieht man sehr gut, ob jemand breiter oder unregelmäßiger geht.

Wo steht die Forschung aktuell?

Wir gehen gerade der Frage nach, ob man sich gegen Stürze impfen kann. Die Antwort ist wahrscheinlich ja. Es scheint so zu sein, dass wenn man ungefähr eine Stunde im Jahr auf einem sogenannten Perturbationslaufband trainiert, die Leute die anfangs stolpern nachher nicht mehr stolpern. Die Zahl der Stürze geht um mehr als 50 Prozent zurück. Auf dem Laufband stehen ist ein bisschen wie U-Bahn fahren ohne sich dabei festzuhalten. Auf den Perturbationslaufbändern sichern wir die Leute jedoch mit einem Gurtsystem. Es scheint so zu sein, dass wir schlafende Synapsen im Gehirn haben und Dinge die wir früher konnten, verlernt haben. Die Befunde werden wieder und wieder bestätigt. Damit tut sich ein komplett neues Fenster auf und die Menschen sind begeistert.