Ablagerungen im Gehirn sind nicht die einzige Ursache für die Krankheit, wie neue Studien zeigen.

Mehr als 35 Millionen Menschen leiden weltweit an Alzheimer. Und weit mehr Menschen fragen sich, ob sie irgendwann auch vom schleichenden Untergang der Nervenzellen betroffen sein werden. Alle Erinnerungen wie auch das Bewusstsein für sich selbst gehen dabei nach und nach verloren, die Gefühlswelt verändert sich, und die Denkleistung lässt nach – ein hartes Schicksal für alle Beteiligten. Derzeit gibt es noch kein Medikament, das vor Alzheimer schützt oder die Erkrankung bekämpfen kann.

 

Einige Wirkstoffe, die die Alzheimer-typischen Ablagerungen zwischen den Nervenzellen wieder auflösen sollten, waren zwar im Tierversuch durchaus vielversprechend, scheiterten aber beim Menschen. Die Forschung kämpft um jedes Puzzleteilchen, um das Rätsel zu lösen.

Die Ablagerungen sind nicht der einzige Auslöser

Neuere Untersuchungen von Thomas Bayer, Leiter der Arbeitsgruppe für Molekulare Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie am Universitätsklinikum Göttingen, und seinem Forscherteam deuten daraufhin, dass das bisher verdächtigte Eiweiß Beta-Amyloid 1-42 nicht in seiner normalen Länge der Übeltäter ist, sondern die verkürzte Form. Außerdem gibt es inzwischen Studien, die die Bedeutung der Ablagerungen relativieren. Auch Knäuel aus einem anderen Protein in den Nervenzellen sollen eine sehr wichtige Rolle bei Alzheimer spielen. „Offenbar kann in all jenen Fällen, in denen Alzheimer nicht genetisch bedingt ist, das Beta-Amyloid nur dann für die Nervenzellen toxisch werden, wenn zugleich verändertes Tau-Protein vorhanden ist. Zusammen sind sie ein höchst gefährliches Paar“, sagt der Göttinger Neurobiologe und Professor für Molekulare Psychiatrie. Das Beta-Amyloid gilt laut Bayer heute als Auslöser von Alzheimer, das Tau-Protein als Vollstrecker. Eigentliche Aufgabe des Tau-Proteins ist es, Stütz- und Leitungsstrukturen in den Nervenzellen zu stabilisieren, entlang derer auch der Nährstofftransport erfolgt.

Es stellt sich die Frage, ob es ein völlig natürlicher Vorgang ist, dass sich mit zunehmendem Alter – allerdings in begrenzter Menge – Ablagerungen aus Amyloid-und Tau-Knäueln bilden. Entsteht Alzheimer, weil die Nervenzellen mancher Menschen nicht mehr in der Lage sind, mit diesen Ablagerungen fertig zu werden? Eine aktuell im britischen Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlichte Studie von Bruce Yankner und seinem Team von der Harvard Medical School in Boston, USA, kommt zu dem Ergebnis, dass gesunde menschliche Hirnzellen in der Hirnrinde und im Hippocampus im Alter ein bestimmtes Gen einschalten, das einen Schutzmechanismus aktiviert. Hippocampus und Hirnrinde spielen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Alzheimer. Der Hippocampus ist nämlich jener Gehirnbereich, in dem Informationen vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis überführt werden. Geht den Nervenzellen dieser Stressschutz verloren, können sie der Studie zufolge absterben.

Das Protein verhindert den Zelltod

Was verbirgt sich hinter diesem neu entdeckten Schutzmechanismus? Das im Alter aktivierte Gen steuert die Produktion eines Proteins namens REST. Es bewirkt, dass Gene, die den programmierten Zelltod auslösen, abgeschaltet werden. Und es reguliert Gene, die die Zellen weniger anfällig für Stress machen. „Stress, verursacht durch toxische Substanzen, kann diesen Zellen dann nicht so stark zusetzen wie jenen Zellen, die über kein REST-Protein verfügen“, erläutert Michael Heneka, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Neurowissenschaften an der Universitätsklinik Bonn. Das haben auch Yankners Untersuchungen an Zellkulturen gezeigt.

Doch bei Alzheimer-Patienten sowie bei Menschen mit leicht gestörter Gedächtnisleistung ist der Gehalt des schützenden Proteins in den Nervenzellen vermindert. Die US-Forscher hatten im Rahmen ihrer Studie Hirnproben gesunder und dementer verstorbener Hundertjähriger verglichen. Dabei stellten sie fest, dass all jene Hundertjährigen, die trotz Ablagerungen keine Demenz hatten, dreimal so viel dieses Proteins produzierten wie die erkrankten Hundertjährigen. Versuche mit gentechnisch veränderten Mäusen, die nicht mehr in der Lage waren, das REST-Protein zu bilden, bestätigten, dass sein Fehlen die Entwicklung einer Demenz fördert. „Dieses Protein ist also unbedingt nötig, damit die Neuronen im alternden Gehirn am Leben bleiben“, betont Yankner in einer Pressemitteilung.

Das Rätsel ist noch nicht gelöst

Bis zu dieser Studie war REST vor allem als Genschalter in der vorgeburtlichen Gehirnentwicklung bekannt. Nach der Geburt schien es keine Funktion mehr zu haben. Der Harvard-Forscher hält den Schutzmechanismus für eine kluge Erfindung der Evolution. „Aber ich bin mir sicher, dass es noch etwas anderes gibt, was wir bisher nicht gesehen oder gemessen haben. REST allein ist nur die halbe Geschichte“, sagt Yankner. Er glaubt, dass ein Weg gefunden werden könnte, wie die nachlassende Proteinproduktion im Gehirn wieder angekurbelt werden kann.

Auch Publikationen anderer Forscherteams haben gezeigt, dass das Protein offenbar bei allen neurodegenerativen Erkrankungen eine Rolle spielt. „Die aktuelle Studie ist sehr interessant und methodisch gut gemacht“, sagt Bayer. Auch Heneka sieht das so. Aber sie kritisieren, dass die Proben nur eine Korrelation zwischen Proteingehalt und Hirngesundheit zeigen. Unklar sei auch, inwiefern sich die Ergebnisse an Mäusen übertragen lassen. Das Alzheimer-Rätsel ist noch nicht gelöst, aber die Forschung ist wieder einen Schritt weiter.