Rom/ Washington - Dienstag, 4. Oktober, 11.52 Uhr. Fast pünktlich hebt die Boeing 767 der British Airways vom Flughafen Rom Fiumicino ab. An Bord, weitgehend abgeschirmt von den Kameras, die 24-jährige Amerikanerin Amanda Knox. Vierzehn Stunden zuvor ist die hübsche Studentin von einer Mordanklage freigesprochen worden; die 26 Jahre Haft, die ihr die erste Gerichtsinstanz aufgebrummt hat, bleiben ihr von einer Sekunde auf die andere erspart. Jetzt geht's über London heim, nur noch heim nach Seattle. Und am Boden bleiben eine Menge Fragen zurück.

 

Die vor allem: Wie konnten die Richter der ersten Instanz im Dezember 2009 über 427 Urteilsseiten hinweg belastendes Material auflisten gegen Amanda Knox und ihren Freund Raffaele Sollecito, wenn die zweite Instanz nun von der absoluten Unschuld der beiden überzeugt ist? Die Begründung für das zweite Urteil wird zwar erst in neunzig Tagen ergehen. Doch schon heute steht fest: einer der beiden Urteilssprüche muss grundfalsch sein.

Die zweite Frage: Wer, wenn nicht die beiden Freigesprochenen, hat in der Allerseelennacht 2007 die bildhübsche britische Studentin Meredith Kercher in so blutrünstiger Weise abgeschlachtet? "Wir respektieren die Entscheidung der Richter, aber wir begreifen nicht, wie die Entscheidung des ersten Prozesses so radikal umgestoßen werden konnte", erklärte die britische Familie des Opfers. Das war ja "eine gemeinschaftliche Tat orgiastischer Natur, in welcher verbrecherische Impulse der perversesten Natur zum Ausbruch kamen." So hat es das oberste Gericht Italiens festgehalten. Aber dieses hatte, im Dezember 2010, nur über einen der Täter zu urteilen. Rudy Guede war als Kind von der Elfenbeinküste nach Perugia gekommen. Ein Kleinkrimineller und der einzige Mensch, dessen gewalttätige Spuren am Tatort über alle Zweifel erhaben waren. Weil es nicht viel zu verhandeln gab, wählten Guedes Verteidiger das "abgekürzte Verfahren" - praktisch ein Deal mit dem Gericht, der dem Täter ein Drittel der Strafe erspart.

"Der Druck der Medien war enorm"

Guedes Verfahren und der Prozess gegen Knox und Sollecito liefen damit von Anfang an auf getrennten Schienen. Der schließlich zu 16 Jahren Haft verurteilte Guede wurde im Knox-Prozess seltsamerweise auch nie als Zeuge vernommen. Er stand mit seinen Aussagen damit nie unter Wahrheitspflicht; ob also stimmt, was er seinen Richtern über die Mordnacht und die "dunklen Schatten im Haus" erzählte, bleibt offen. Viel war es ohnehin nicht.

Während also ein Schwarzer für den brutalen Mord rechtskräftig verurteilt war, setzten die Verteidiger von Knox und Sollecito jetzt auf das "reine" Image ihrer eigenen Mandanten. Prozessbeobachter aus den USA bemerkten diesen unterschwelligen Rassismus durchaus.

Das war auf Fernsehwirkung berechnet, und in der Tat wandelte sich während der beiden Prozesse das Bild Amandas dramatisch: Sah sich die im ersten Prozess 21-Jährige als männerverschlingendes Sex- und Drogen-Luder dargestellt, das ihr Auslandsstudium für hemmungslose Experimente nutzte, so wurde sie immer mehr zum sanften Engel mit dem züchtig gesenkten Unschuldsblick. Und die Maschinerie der großen amerikanischen Fernsehanstalten tat alles, diesen Eindruck weltweit zu verbreiten. Der Druck der Medien auf diesen Prozess, so beklagt der nun unterlegene Staatsanwalt Giuliano Mignini, sei enorm gewesen. Dass er auch das Richtergremium - zwei Berufsrichter, sechs Schöffen - beeinflusst hat, dürfte außer Frage stehen.


Was hinter den Kulissen sonst noch lief, kann nur vermutet werden. Welche Rolle hat die "Italienisch-Amerikanische Stiftung" gespielt? Das ist eine alte Freundschaftsinitiative, wie es sie in vielen Ländern gibt, zwischen der Politik und Wirtschaft auf der einen und den USA auf der anderen Seite. Diese Stiftung hat Amanda während der Haft eng "persönlich betreut" - und jetzt die schnelle Ausreise organisiert. Die diplomatische Verstimmung, die nach dem Urteil der ersten Instanz zwischen Rom und Washington aufkam, war schnell verflogen.

Und wie geht es weiter? Finanziell wenigstens, so heißt es, habe Amanda Knox ausgesorgt: Zu Hause winken Millionenverträge mit den großen US-Sendern. Finanziell bescheidener, aber tendenziell genauso wird es Raffaele Sollecito ergehen. Vorerst hat er sich zu seinem Vater, einem Arzt in Apulien, zurückgezogen. Sein Informatikstudium hat er in der Haft vorangetrieben; es steht vor dem Abschluss.

Sicher ist, dass die Staatsanwälte den Freispruch vor dem Kassationsgericht, der obersten Instanz Italiens, anfechten werden. Dieses steigt aber nicht wieder in die Beweisaufnahme ein, sondern prüft die Akten lediglich darauf hin, ob das Urteil rechtmäßig zustande gekommen ist. Es kann also den Freispruch von Montag Abend bekräftigen - dann bekämen Amanda und Raffaele für ihre vier Jahre ungerechtfertigter Haft eine Entschädigung von jeweils einer halben Million Euro. Das Kassationsgericht kann den Freispruch aber auch zurückweisen. Dann würde das Verfahren neu aufgerollt. Ohne Amanda Knox allerdings. Sie hat zwar vor ihrem Abflug am Dienstag noch einen Brief veröffentlicht und den Italienern versichert: "Ich liebe euch alle." Aber einen neuen Prozess gegen sie wird sie lieber aus sicherer Entfernung betrachten, daheim in Seattle.

Ein zerstörter amerikanischer Traum

In der Heimat war Knox dem US-Frühstücksfernsehen am Dienstag eine eigene Sendung wert. "Good Morning America", das Nachrichtenflaggschiff von ABC, machte eine Sonderausgabe mit dem Titel "Amanda Knox kommt heim". Die Quote stimmt - auch in den Umfragen. Vier von fünf Amerikanern sind von der Unschuld der Studentin überzeugt. Die Medien nahmen deshalb ungefiltert Anteil an der Freude ihrer Familie.

Die Perspektive der verbitterten Angehörigen des britischen Opfers schien hingegen mehrere tausend Kilometer entfernt zu sein, ungewöhnlich für ein Land, in dem bei Sensationsprozessen im eigenen Land Volkes Stimme eher zur Vorverurteilung neigt. Im Fall Knox war das anders. Ein Studienjahr im Ausland, gar Italien, davon träumen in den USA viele. Ihr Schicksal spiegelte deshalb auch einen zerstörten amerikanischen Traum. Und dass die italienische Justiz anders vorging als die eigene, verstanden viele Amerikaner als rückständig. Eine Charakterisierung von Knox als "Teufelin" wäre im auf politische Korrektheit achtenden US-Justizsystem undenkbar. Das Mitgefühl ist deshalb groß.

Doch es gab auch nachdenkliche Stimmen. Die "New York Times" begrüßte den Freispruch in einem Leitartikel, warnte allerdings vor Arroganz. "Wenn Knox ihren Prozess in den USA gehabt hätte, dann könnte sie auf dem Weg zur Hinrichtung sein", hieß es. "Der Fall von Troy Davis, der vor kurzem in Georgia getötet wurde, obwohl die meisten Zeugen widerrufen hatten, sollte uns vor Augen bleiben, während wir die Knox-Saga auseinandernehmen."