Der Online-Riese Amazon möchte sich am Medientag in Pforzheim als offener Arbeitgeber präsentieren – das gelingt nicht in jeder Hinsicht. Zur Entlassung eines Betriebsrats schweigt die Führung.

Pforzheim - Wenn an der Kapazitätsgrenze gearbeitet wird, passieren Fehler. Das ist normal und wird akzeptiert, wer würde in einer so amerikanischen Unternehmenskultur wie der von Amazon etwas anderes erwarten. Im Pforzheimer Logistikzentrum sind Deborah Marziliano (25) und Egzon Muharemi (29) „Problemlöser“. Wenn Ware kaputt geht, falsch verpackt ist oder Barcodes und Gewichtsangaben nicht stimmen, müssen die beiden schnell reagieren, bevor das Paket auf dem Lkw landet. Etwa 60 Lastwagen verlassen das Lager täglich bis unters Dach mit Ware vollgestopft. Marziliano ist seit drei Jahren bei Amazon. „Ich war erst eineinhalb Jahre in der Verpackung, das war schon anstrengend.“ Heute hilft sie nur noch gelegentlich beim Verpacken der einzelnen Artikel.

 

Davon gibt es 3,7 Millionen auf einer Fläche von 120 000 Quadratmetern oder 17 Fußballfeldern. „Das Lager war noch nie so voll wie in diesem Jahr. Wir sind am Limit angelangt“, sagt Standortleiter Alexander Bruggner. Der gebürtige Karlsruher führt den Standort seit der Eröffnung 2012. Die Dynamik beim Online-Riesen verdeutlicht Bruggner, der sich von allen Mitarbeitern duzen lässt, mit einem Satz: „90 Prozent aller Amazon-Beschäftigten weltweit sind nach mir im Unternehmen gestartet.“

Keine Probleme, Saisonkräfte zu finden

Vor Ort im Nordschwarzwald beschäftigt das Unternehmen rund 1300 Mitarbeiter fest, dazu kämen mehrere Hundert Saisonkräfte. Wie viele das in diesem Jahr genau sein werden, konnte Bruggner beim Medientag am Mittwoch nicht sagen. Nur so viel: „Wir haben keine Probleme, Saisonkräfte und neues Personal zu finden.“

Wie immer während der Stoßzeiten stellt sich der Arbeitgeber auch in diesem Jahr auf Streiks im Weihnachtsgeschäft ein – in Pforzheim muss er das allerdings nicht. Im Gegensatz zu anderen Standorten wie Bad Hersfeld, Leipzig oder Koblenz gelingt es der Gewerkschaft hier nicht, die Belegschaft zu mobilisieren. Erst einmal, im Herbst 2015, legten 55 Beschäftigte für zwei Tage die Arbeit nieder. Die Arbeitnehmervertreter versuchen Amazon durch bundesweite Aktionen seit mehr als fünf Jahren in den Einzelhandels-Tarif zu zwingen – bisher vergeblich, der Arbeitgeber orientiert sich nach eigenen Angaben „am oberen Ende des Tarifs in der Logistikbranche“ und verweigert sich allen Verhandlungen mit der Gewerkschaft.

Verdi sieht Lohnunterschied von bis zu 20 Prozent

Allerdings schreibt sich Verdi durchaus Erfolge auf die Fahnen: „Mitarbeiter verdienen heute mehr und haben bessere Arbeitsbedingungen“, sagt Thomas Schark, Verdi-Sekretär im Bezirk Mittelbaden-Nordschwarzwald. Doch der Lohnunterschied zu Beschäftigten im Einzel- und Versandhandel betrage immer zwischen zehn und 20 Prozent. Inklusive leistungsbezogener Boni komme ein Mitarbeiter im dritten Jahr auf einen Bruttomonatslohn von 2244 Euro, heißt es bei Amazon.

Christos Kalpakidis ist seit 2013 Betriebsratsvorsitzender in Pforzheim. Er hat für die mangelnde Streikbereitschaft zwei Erklärungsansätze: Erstens, die im Vergleich zu anderen Standorten geringere Belegschaftsgröße. Der zweite Grund seien die vergleichsweise guten Zusatzleistungen: „Wir haben in den letzten Jahren einiges erreicht“, sagt Kalpakidis und nennt Überstundenzuschläge von 40 bis 80 Prozent und Nachtzuschläge von 30 Prozent. Allerdings zahlt der Arbeitgeber diese vor allem im Saisongeschäft. Auch das Weihnachtsgeld von 450 bis 650 Euro sei ausbaufähig, sagt der Betriebsrat, der im Vorbeigehen von einem älteren Kollegen gelobt wird: „Seit ihr da seid, werden mehr Kollegen fest angestellt“, meint dieser.

Während die Amazon-Verantwortlichen drinnen Werbung in eigener Sache machen, setzt Verdi auf dem Mitarbeiterparkplatz einen kritischen Kontrastpunkt: Die Gewerkschaft informiert die Beschäftigten über die jüngsten Urteile des Bundesarbeitsgerichts, die Streikposten während Arbeitsniederlegungen auf dem Betriebsparkplatz gestatten. Das Ziel von Verdi sei es, im kommenden Jahr auch in Pforzheim wieder Streiks zu organisieren, sagte Verdi-Sekretär Schark.

Betriebsratsmitglied fristlos gekündigt

Die Gewerkschaftsvertreter informierten auch über einen aktuellen Streit am Standort. Einem Mitglied des Betriebsrats sei fristlos gekündigt worden. Der Vorwurf: Der Mann hätte Kollegen zum Arbeitszeitbetrug aufgerufen. Verdi und der Betriebsrat halten diese Darstellung für überzogen. Der Beschuldigte habe auf einer Betriebsversammlung Informationen für Kollegen ins Englische übersetzt. Als es darum ging, dass sie nicht schon mehrere Minuten vor dem Schichtende vor der Stempeluhr stehen sollten, habe er die „flapsige Bemerkung“ gemacht, sie könnten stattdessen ja zur Toilette gehen. Der Betriebsrat, der die Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung generell als positiv beschreibt, verweigerte der Kündigung die Zustimmung mit dem Hinweis, der Kollege habe die Botschaft des Arbeitgebers verstanden. Nun müsste Amazon die Kündigung vor dem Arbeitsgericht erstreiten. „Zu internen Personalangelegenheiten äußern wir uns nicht“, sagt Standortleiter Bruggner.

Egzon Muharemi, einer der Problemlöser aus dem Warenversand, mag sich nicht beklagen. Auch er ist von Anfang an dabei. „Seit dem Start hat sich vieles verbessert“, sagt der 29-Jährige. Damals sei er mit einem Stundenlohn von 9,10 Euro eingestiegen, heute verdiene er 13,80 Euro.