Die Betriebsseelsorge in Böblingen und Sindelfingen sowie der Verdi-Ortsverein kritisieren Amazon für problematische Arbeitsverhältnisse. Der Onlinegigant betreibt seit 2022 ein Vertriebszentrum in Darmsheim. Amazon weist alle Vorwürfe zurück.

Der Amazon-Konzern ist der weltweit größte Onlinehändler und beansprucht in Deutschland über ein Drittel des Marktes für sich. Immer wieder steht das Unternehmen für seine Geschäftspraktiken und den Umgang mit Mitarbeitern in der Kritik. Jetzt haben sich diesbezüglich auch die Betriebsseelsorge und die Gewerkschaft Verdi im Kreis Böblingen zu Wort gemeldet und fordern Veränderungen.

 

Knochenjob letzte Meile

Ioan Brstiak, gebürtiger Rumäne, soll im Auftrag der evangelischen und katholischen Betriebsseelsorgen in Sindelfingen und Böblingen Unterstützung für die Paketzusteller organisieren und Aufmerksamkeit für diejenigen wecken, die Tag für Tag die Waren an die Haustür liefern. Am gleichen Strang zieht der Verdi-Ortsverein im Kreis Böblingen, der versucht, bei Amazon und anderen Firmen der Logistikbranche einen Betriebsrat und eine Tarifstruktur zu installieren, wie sie ansonsten bei Konzernen im Land üblich ist. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung hat Ioan Brstiak nun von seiner Arbeit berichtet.

Seit 2022 betreibt Amazon ein neues Verteilzentrum in Darmsheim, es steht am Ortsausgang Richtung Sindelfingen und ist gut zu sehen. Laut Brstiak arbeiten dort etwa 200 Beschäftigte, ungezählte mehr allerdings würden den eigentlichen Knochenjob für Amazon in Subunternehmen machen, nämlich die sogenannte letzte Meile an die Kundinnen und Kunden im Kreis Böblingen. Ioan Brstiak sowie einige Aktivisten der DGB-Gruppe „Faire Mobilität“ und Mitglieder des Verdi-Ortsvereins zählten an einem Dezembermorgen binnen zwei Stunden etwa 100 Lieferwagen, die mit Paketen beladen das Lager verließen. Etwa ein Drittel der Fahrzeuge waren weiß ohne Firmenaufdruck, der Rest trug das Amazon-Emblem. Für wen die Zusteller arbeiten, ist den Gewerkschaftern nicht bekannt – die allermeisten dürften für Subunternehmen malochen. Oder sie versuchen, als ihr eigener Chef zu Geld zu kommen, als vermeintlich Selbstständige.

Angelockt vom deutschen Mindestlohn – im Vergleich zu osteuropäischen Ländern das große Geld – und vermittelt oft von der Arbeitsagentur, würden sich laut Brstiak meist junge Männer aus Rumänen, Bulgarien, Moldawien oder Nordmazedonien bei Subunternehmen verdingen. „Eine Chance für viele“, sagt der Theologe, aber „der bittere Geschmack der Realität“ folgt. Die Bezahlung sei nicht gerecht, Überstunden würden meist nicht entlohnt. Computer hätten berechnet, dass 150 oder mehr Pakete in acht Stunden zu schaffen seien. Wer länger brauche, sei eben nicht schnell genug. „Für eine Pause reicht es in der Regel nicht, eine leere Wasserflasche ist die mobile Toilette“, wird berichtet. Dampf mache der Vorgesetzte über das Handy, wenn ein Fahrzeug zu lange an einer Stelle stoppt.

Firmen in die Verantwortung nehmen

Bei Krankheit müssten die Arbeiter aus Geldmangel zurück in ihre Heimat fahren und würden durch neue ersetzt. Das ausbeuterische System beruhe auf Druck, Kontrolle und extremer Belastung. „Arbeitnehmerrechte sind den Betroffenen unbekannt, weil die Deutschkenntnisse fehlen“, so Brstiak. Und zu einem Sprachkurs seien die jungen Männer nach der überlangen Tagesarbeit nicht mehr in der Lage.

„Die Größen der Branche müssen stärker in die Verantwortung für ihre Beschäftigten genommen werden“, fordern Betriebsseelsorge und Verdi. Die ganze Branche sei gefährdet, ein derartiges Dumpingmodell zu betreiben. „Nur noch festes, eigenes Personal sollte angestellt werden dürfen, wie es die Politik seit den jüngsten Skandalen der Fleischbranche vorschreibt“, meint Brstiak. Andreas Hiller, Pfarrer der evangelischen Betriebsseelsorge Ini Sindelfingen, appelliert an die Verbraucher, wenn sie schon Waren im Internet bestellen, diese zu behalten und nicht zurückzuschicken. „Das Versenden geht auf Kosten der Beschäftigten.“

Laut Amazon werden alle Lieferpartner regelmäßig überprüft

In einem Statement weist Amazon die erhobenen Vorwürfe zurück. „Die erwähnten Zustände entsprechen keinesfalls der Realität für die Tausenden Menschen, die bei Lieferpartnern in ganz Deutschland beschäftigt sind und jeden Tag Pakete zu Amazon Kund:innen bringen“, entgegnet ein Sprecher des Online-Giganten per Mail. „Wir stellen hohe Anforderungen an die Unternehmen, die mit uns zusammenarbeiten, und die überwiegende Mehrheit sind großartige, zuverlässige Partner.“ Die Lieferpartner würden sich vertraglich verpflichten, die geltenden Gesetze insbesondere im Hinblick auf Löhne, Sozialabgaben und Arbeitszeiten einzuhalten. „Wir überprüfen sie regelmäßig, um sicherzustellen, dass sie die geltenden Gesetze und unsere Richtlinien einhalten, und ergreifen Maßnahmen, wenn dies nicht der Fall ist“, so der Amazon-Sprecher. Wenn Überstunden anfallen würden, seien die Partner verpflichtet, die Fahrer entsprechend zu bezahlen. Zudem habe Amazon in Deutschland eine Fahrer-Hotline eingerichtet, die allen Fahrern in verschiedenen Sprachen zur Verfügung stehe. Dort könnten die Zusteller auch anonym ihr Feedback abgeben. „Wir gehen jedem Fall nach und klären mögliche Probleme mit dem zuständigen Arbeitgeber. Bei Vertragsverletzungen oder Hinweisen auf illegale Handlungen beenden wir die Zusammenarbeit mit dem Partner.“