Auch Amazon macht Qualitätsfernsehen: „The Man in the High Castle“ ist eine faszinierende Neuheit des Streaming-Anbieters. Die Serie spielt einen unerhörten Gedanken durch: Was wäre, wenn Nazi-Deutschland den Krieg gewonnen hätte?

Stuttgart - New York, Times Square, ein Lichtermeer. So kennen wir den Platz heute, so kennen wir ihn von alten Fotos. Hier aber, im Jahr 1962, ist etwas anders. Die haushohe schmale Leuchtreklame am Nordende zeigt eine Hakenkreuzfahne. Das Schriftband darüber verkündet: „Work will set you free“, also „Arbeit macht frei“, den Spruch, der über dem Tor des Todeslagers von Auschwitz stand. Das Ganze ist keine Werbung für einen Film, denn rechts hinten sehen wir eine riesige US-Flagge, aus deren Sternenfeld die Sterne verschwunden sind. Auch dort prangt jetzt ein Hakenkreuz.

 

Die Fernsehserie „The Man in the High Castle“, die faszinierendste Herbstneuheit beim Streaming-Anbieter Amazon, spielt in einer Welt, in der die Geschichte eine gruselige Biegung nimmt: Die Nazis entwickeln die Atombombe vor den Amerikanern, die Achsenmächte gewinnen den Zweiten Weltkrieg. Der Osten der USA ist von den Deutschen besetzt, der Westen von den Japanern. Dazwischen liegt eine verarmte neutrale Zone, die es auch dringend braucht. Die einstigen Verbündeten verachten nämlich einander. Der greise Hitler zittert sich durch seine letzten Wochen. Sobald Himmler seine Nachfolge übernimmt, glauben japanische Politiker und Militärs, wird das Dritte Reich auch Japans amerikanische Kolonie mit Wasserstoffbomben attackieren.

Angst und Paranoia, Bedrückung und Leiden

Das Horrorszenario dieser Serie basiert auf einem der wichtigsten Romane eines der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der jüngeren Zeit, auf Philip K. Dicks „Das Orakel vom Berge“, wie „The Man in the High Castle“ in deutscher Übersetzung heißt. Der Showrunner Frank Spotnitz, also der Mann, der alle Fäden der Produktion in der Hand hält, hat sich nicht auf äußere Schauwerte verlassen. Er hat den Geist von Dicks Roman ins neue Medium gerettet, Angst und Paranoia, Bedrückung und Leiden. Die Geschichte steckt voller Provokateure und Geheimpolizisten, Doppelagenten und Lügner. Und wer weder zur schwachen Widerstandsbewegung noch zu den Besatzungsmächten gehört, der kann nur hoffen, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Genau das aber passiert Juliana Crain (Alexa Davalos), die in den Besitz geheimnisvoller Filmrollen gerät.

Ruchlose Brutalität wie die von Obergruppenführer John Smith (Rufus Sewell) ist in dieser Serie fast schon eine beruhigend verlässliche Größe. Ansonsten lernt man schnell, allen alles zuzutrauen, auch netten Typen wie Frank (Rupert Evans), einem LKW-Fahrer in Diensten des Untergrunds. „The Man in the High Castle“ erzählt, wie Erpressung, Bespitzelung, Folter und Willkür zum Werte- und Wirklichkeitsverlust führen. Gegen die Lakonie, mit der uns hier die Scheußlichkeit des neuen Amerika vorgeführt wird, kann man sich nur schwer rüsten. Als Frank bei seiner ersten Fahrt über Land eine Panne hat, hält ein jovialer Polizist an, Typ Dorfsheriff mit Hakenkreuz. Als etwas herabrieselt, das zunächst wie Schnee wirkt, fragt Frank, was das denn sei. Und erhält die gutgelaunte Antwort: „Das kommt vom Krankenhaus. Dienstags verbrennen sie die Krüppel und die Todkranken. Nutzlosen Ballast fürs Land.“

Der Durchbruch für Amazon?

Amazons Entwicklungsschritt, den Kunden seines Prime-Programms auch selbst produzierte Serien anzubieten, ging im Wirbel um die Netflix-Offensive und die Qualitätsserien bewährter Anbieter wie HBO bislang fast unter. Tatsächlich aber bot der Händler, der seine Kunden über die Pilotfolgen konkurrierender Serienprojekte abstimmen lässt, bislang äußerst solide Ware: die Krimireihe „Bosch“ etwa, die auf Michael Connellys Bestsellern beruht, oder „Alpha House“, eine Sitcom aus dem Washingtoner Politikerleben mit John Goodman. Dennoch fehlte Amazon bis jetzt eine Leuchtturmserie, ein Bürogespräche und Feuilletondebatten prägender Wurf wie „Game of Thrones“, „House of Cards“ oder „Breaking Bad“.

Mit „The Man in the High Castle“ hat der Konzern, der ganz generalistisch dem Motto „Geschäfte sind unser Geschäft“ folgt, nun wohl seine Durchbruch-Serie gefunden. Dabei geht es hier gar nicht um Charaktertiefe oder einzelne Figuren, sondern um einen Weltentwurf, der mit großer Sinnlichkeit, mit viel realer, handfester und auch glaubhaft abgeschabter Ausstattung unter weitgehendem Verzicht auf Computerbilder vermittelt wird. Und es ist ein pessimistischer Weltentwurf, einer, der ähnliche Anstrengungen des Kinos wie die „Tribute von Panem“ klar deklassiert. Dies hier ist ein sehr erwachsener Albtraum.