Der neue Vorstandssprecher von Amnesty International, Alexander Hülle, rügt scharf die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien und Angola.

Stuttgart - Alexander Hülle, der jüngst zum Amnesty-Sprecher in Deutschland gewählt wurde, attackiert die Bundesregierung. Sie lasse Menschenrechtsfragen zum Ritual verkommen und versorge Länder mit Waffen, ohne auf deren Rechtsstaatlichkeit zu achten, sagt der Stuttgarter.

 

Herr Hülle, unterstützt Deutschland mit der Lieferung von Leopard-Panzern an Saudi-Arabien ein Unterdrückerregime?

Meiner Meinung nach eindeutig ja. Die Haltung gegenüber all diesen arabischen Diktaturen war immer sehr zwiespältig. In Libyen wurde Gaddafi einst allein dafür hofiert, dass er Flüchtlingsbewegungen verhindert hat. In Tunesien wurde Ben Ali als angeblicher Stabilitätsgarant gestützt. In Saudi-Arabien hat das noch eine andere Dimension, weil unser Öl dorther kommt. Am diktatorischen Charakter des Regimes kann kein Zweifel bestehen. Die saudische Regierung versucht mittlerweile, die Menschen mit künstlich niedrigen Benzinpreisen, günstigen Krediten und neuen Jobs zu beruhigen, um sozialen Sprengstoff abzuräumen. Wer sich aber kritisch äußert, verschwindet sehr schnell.

Selbst Israel fand den Deal nicht wirklich beklagenswert - ist das eine Absolution?

Israels Kalkül ist schwer nachzuvollziehen, aber es kann nicht darum gehen, ob Israel einverstanden ist oder nicht. Tatsache ist, dass ein Regime aufgerüstet wird, das für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.

Wie viel Pragmatismus ist erlaubt, um die Stabilität in einer solchen hochexplosiven Region zu erhalten, wo ziehen Sie die Grenzen?

Es hat sich in Tunesien und Libyen gezeigt, dass eine Unterstützung für solche Herrscher immer auf den Westen zurückfällt, weil mit doppelten Standards agiert wird. Zudem tragen Waffen nicht unbedingt zur Stabilität bei, insbesondere, wenn sie möglicherweise zu Menschenrechtsverletzungen verwendet werden. Der Druck kann so groß werden, dass die Regime eben doch stürzen. Dass Politik grundsätzlich immer auch Pragmatismus an den Tag legen kann, ist völlig klar. Umgekehrt muss Amnesty prinzipientreu bleiben und die Politik auf die Einhaltung ihrer Pflichten für die Menschenrechte hinweisen.

Waffenlieferungen in Krisenregionen sind in Deutschland verboten. Ist das jetzt ein politischer und moralischer Dammbruch?

Ich finde es einen gefährlichen Präzedenzfall. Man kann darüber streiten, ob Saudi-Arabien schon ein Krisengebiet ist. Aber der Nahe Osten ist es. Im Übrigen kann Deutschland alle beantragten Rüstungstransfers mit Blick auf die Menschenrechtslage im Empfängerland verbieten. Dass diese Option bei Saudi-Arabien nicht genutzt wird, ist inakzeptabel.

Die Bundesregierung will darüber nicht reden - können Sie das nachvollziehen?

Das kann in einer parlamentarischen Demokratie kein Argument sein. Ich finde es unglaublich, dass die Regierung versucht hat, das als Geheimdeal durchzuziehen. Dies zeigt erneut, wie notwendig die Forderung von Amnesty nach mehr Transparenz beim Waffenhandel und einer parlamentarischen Kontrolle der Entscheidungen über Rüstungsexporte ist.

Haben Sie bei den Patrouillenbooten für Angola ähnliche Bedenken?

Auch in Angola sind Menschenrechtsverletzungen weiterhin an der Tagesordnung, zumal die Region weiterhin von Konflikten betroffen ist. Da sind Rüstungslieferungen ein falsches Signal. Frau Merkel sollte besser Maßnahmen für mehr Rechtsstaatlichkeit, zur Bekämpfung der Korruption und zur Einhaltung der Menschenrechte in Angola unterstützen - dafür ist jeder Cent besser angelegt als für Waffenlieferungen.

Tut die Bundesregierung genug zur weltweiten Achtung der Menschenrechte?

Frau Merkel hat mein Herz gewonnen, als sie Kanzlerin wurde und Murat Kurnaz 2006 aus Guantanamo nach Hause geholt hat. Wenn heute der chinesische Ministerpräsident zu Besuch kommt, gehört eine Frage zu den Menschenrechten inzwischen zum guten Ton. Meistens sagt der Gast irgendwas Beruhigendes dazu. Das befriedigt dann die öffentliche Erwartung. Wir aber passen auf, dass es nicht zum Ritual wird, das letztlich ohne Folgen bleibt.

Im UN-Sicherheitsrat hat Außenminister Westerwelle als Vorsitzender nun die Chance, mehr zu bewirken.

Die Initiativen, den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten zu stärken oder die Verfahren bei den El-Kaida-Sanktionen auch menschenrechtlich zu verbessern, haben wir begrüßt. Auch das Bemühen, die Gewalt in Syrien auf die Agenda des Sicherheitsrates zu bringen, ist anerkennenswert. In anderen Fällen - etwa dem Sudan - wünschen wir uns aber ein deutlicheres menschenrechtliches Profil.

Warum ist es so schwer, Gräueltaten in Syrien weltöffentlich zu machen?

Trotz aller Informations- und Einreisebeschränkungen durch die syrischen Behörden konnten wir Hinweise sammeln, dass in Syrien Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden. Syrer haben uns per Telefon oder in ihren Zufluchtsorten im Libanon geschildert, mit welcher Brutalität die syrischen Sicherheitskräfte im Rahmen einer groß angelegten und systematischen Operation in der Stadt Tell Kalakh gegen die Bevölkerung vorgegangen sind. Die syrischen Behörden müssen den Ermittlern der Vereinten Nationen und unabhängigen Menschenrechtsorganisationen unverzüglich ungehinderten Zugang zum Land ermöglichen.

Hintergrund: Ein Stuttgarter leitet die Menschenrechtsorganisation

Marktforscher Mitte Juni hat Alexander Hülle das Ehrenamt als Bundesvorstandssprecher übernommen. Der 52-Jährige ist hauptberuflich als Marktforscher bei Reader's Digest in Stuttgart tätig.

Turbulenzen Amnesty war kurz vor der Jahresversammlung wegen der umstrittenen Freistellung von Generalsekretärin Monika Lüke während der Elternzeit in die Schlagzeilen geraten. Angestrebt wird nun eine einvernehmliche Trennung von der jungen Mutter. Zu den konkreten Gründen für das ungewöhnliche Vorgehen will sich Hülle wegen der laufenden juristischen Auseinandersetzung nicht äußern.

Amnesty Der deutschen Sektion von Amnesty International gehören 110.000 Mitglieder an, unter ihnen 22.000 Aktive. Hülle sagt, Austritte wegen der Turbulenzen um Lüke habe es nicht gegeben.