Die Menschenrechtslage in der Türkei verschlechtert sich zunehmend. Laut Amnesty International mehren sich seit dem Putschversuch Berichte über Folter, Misshandlungen und sexuelle Übergriffe durch die Polizei.

Ankara - Es ist ein bedrückendes Bild, das die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in ihrem jüngsten Bericht zur Lage in der Türkei zeichnet: Massenfestnahmen, Folter, Misshandlungen. Im Vorfeld des Verfassungsreferendums Mitte April verschärft Staatschef Recep Tayyip Erdogan jetzt die Gangart gegen seine Kritiker. Bei der Volksabstimmung steht für Erdogan viel auf dem Spiel. Die Wähler sollen ein Präsidialsystem billigen, das dem Staatschef eine nahezu unumschränkte Machtfülle geben würde.

 

Umfragen lassen ein knappes Ergebnis erwarten. Deshalb zieht Erdogan jetzt alle Register. Er verstärkt den Druck auf die Opposition. Vor allem Kurdenpolitiker bekommen Erdogans Rache zu spüren. Am Dienstag wurde der Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP Selahattin Demirtas wegen „Beleidigung des türkischen Staates“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Elf HDP-Parlamentarier sitzen bereits in Haft, neben Demirtas auch die Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdag, der am Dienstag ihr Parlamentsmandat aberkannt wurde. Für sie hat der Staatsanwalt wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung 83 Jahre Haft beantragt, Demirtas drohen bis zu 142 Jahre Gefängnis.

Kurdendorf ist seit Tagen vom Militär abgeriegelt

Auch die Zivilbevölkerung spürt, dass die Zeichen im Kurdenkonflikt wieder auf Sturm stehen. Türkische Oppositionspolitiker und Menschenrechtler fordern von der Regierung Auskunft über die Vorgänge im Kurdendorf Kuruköy, das seit Tagen vom Militär abgeriegelt wird. Strom- und Telefonverbindungen sind gekappt. In Medienberichten heißt es, 39 Festgenommene seien vor den Augen der Dorfbevölkerung grausam gefoltert worden.

Amnesty International schreibt, seit dem Putschversuch mehrten sich Berichte über Folter, Misshandlungen und sexuelle Übergriffe durch die Polizei. Angehörige der Sicherheitskräfte müssten nicht mit Bestrafung rechnen, wenn sie gegen die Menschenrechte verstießen. Umso härter geht Erdogan gegen kritische Veröffentlichungen vor.

Seit dem Putsch wurden 184 Medienunternehmen per Dekret des Präsidenten geschlossen und 118 Journalisten festgenommen. Einer von ihnen ist „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, der seit zehn Tagen als erster deutscher Journalist in Polizeigewahrsam sitzt. Er hatte, wie andere Reporter auch, über kompromittierende E-Mails des Energieministers und Erdogan-Schwiegersohns Berat Albayrak berichtet, die bei Wikileaks frei zugänglich sind. Jetzt ermittelt die Justiz gegen Yücel wegen Terrorpropaganda. Der türkische Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu fordert seine Freilassung: „Es ist nicht richtig, Journalisten zum Schweigen zu bringen. Das schadet der Demokratie.“

Seit dem Putschversuch wurden 128 625 Staatsdiener entlassen

Kilicdaroglu hofft auf ein „Nein“ bei der Volksabstimmung. Sonst befürchtet er eine „Diktatur“. Die Sorge scheint nicht übertrieben, wenn man sich das Ausmaß der „Säuberungen“ ansieht. Seit dem Putschversuch wurden 128 625 Staatsdiener entlassen. Kein Tag vergeht ohne neue Razzien und Festnahmen. Sie treffen mutmaßliche Anhänger des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen ebenso wie kritische Wissenschaftler, Lehrer und Künstler.

Am Montag begann im westtürkischen Mugla ein Prozess gegen 47 Angeklagte, darunter 37 Soldaten. Sie sollen versucht haben, in der Putschnacht ein Hotel zu stürmen, um den dort vermuteten Erdogan zu ermorden. Der Präsident hatte das Hotel kurz zuvor fluchtartig verlassen und entkam dem Mordkommando. Erdogan-Anhänger stimmten vor dem Gerichtsgebäude Sprechchöre an: „Wir wollen die Todesstrafe“. Die Wiedereinführung der Todesstrafe ist Erdogans nächstes Projekt nach dem Verfassungsreferendum: „So Gott will, wird der 16. April ein Signal für dieses Sache sein.“