Am Mittwoch beginnt am Stuttgarter Landgericht der zweite Prozess gegen den Vater des Amokläufers von Winnenden. Man wird sich auf zwei Fragen konzentrieren: Wie desolat war die psychische Situation von Tim K. – und wie viel wusste der Vater darüber?

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Stuttgart - Werden sie ihr Schweigen brechen? Werden die Angehörigen der Opfer, wird die Welt erfahren, was im Kopf eines 15-Jährigen vor sich ging, der am Morgen des 11. März 2009 loszog, 15 Menschen zu ermorden und sich dann selbst zu erschießen? Fünfmal hatte Tim K. das Klinikum am Weissenhof in Weinsberg besucht. Was er den Ärzten und Therapeuten anvertraute, behielten diese für sich. Im ersten Prozess gegen den Vater des Amokläufers von Winnenden und Wendlingen beriefen sie sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Nur schriftliche Unterlagen verrieten, dass der Junge den Ärzten von Tötungsfantasien berichtet hatte.

 

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat jüngst verfügt, dass der Fall wieder aufgerollt wird. Die Therapeuten aus Weinsberg stehen in diesem zweiten Prozess gegen Jörg K. wieder auf der Zeugenliste. Und es ist keinesfalls ausgemacht, dass sie sich abermals auf ihre ärztliche Schweigepflicht berufen können. Denn fraglich ist, ob der Persönlichkeitsschutz des Patienten über dessen Tod hinaus fortbesteht, nachdem die Eltern von Tim K. offenbar ihr Einverständnis gegeben haben, dass die Therapeuten berichten.

In seiner Revisionsbegründung deutet der BGH an, dass eine großzügige juristische Auslegung möglich ist. Der Blick hinter die Mauern der Psychiatrie wird keine spektakulären Neuigkeiten zu Tage fördern, denn in groben Zügen sind die Sitzungen mit Tim K. dokumentiert und bekannt. Aber die Schilderungen der Therapeuten liefern eventuell Mosaiksteinchen, die die verschrobene Weltsicht eines Amoktäters begreifbarer machen.

Die Therapeuten könnten Auskunft geben

Der Blick auf Weinsberg hat überdies möglicherweise Folgen auf das spätere zivilrechtliche Verfahren, in dem es um Schadenersatz und Schmerzensgeld gehen wird. Als Adressat für mögliche Forderungen könnte dann neben dem Vater des Täters auch das Zentrum für Psychiatrie in Weinsberg auftauchen, sofern das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Therapeuten hätten erkennen müssen, welche Gefahr von ihrem Klienten Tim K. ausging.

Daran dürfte vor allem der Angeklagte Interesse haben. Nachdem er im Juli 2011 wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt wurde, muss er mit einer Lawine aus Schadenersatz- und Schmerzensgeldforderungen rechnen. Allein die Stadt Winnenden geht von Gesamtschäden in Höhe von 14 Millionen Euro aus. Wie viel davon geltend gemacht werden kann, wird derzeit geprüft. Die Forderungen der Angehörigen und Opfer dürften sich zwischen fünf und zehn Millionen Euro bewegen.

Das Urteil ist ein Warnsignal an alle Waffenbesitzer

Dass der außergewöhnliche und Aufsehen erregende Prozess gegen den Vater mit seinen fast 30 Verhandlungstagen und mehr als 40 Nebenklägern nochmals aufgerollt wird, mag einem Nicht-Juristen obskur erscheinen. Der Grund, den der BGH dafür anführt: Alle Prozessbeteiligten außer den Verteidigern hatten Gelegenheit, die Mediatorin zu befragen, die Jörg K.s Familie nach der Tat betreute. Denn die Zeugin hatte zwischenzeitlich beschlossen, die Aussage zu verweigern. Dies könnte sogar als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention ausgelegt werden, derzufolge ein Angeklagter das Recht auf eine effektive Verteidigung hat.

Es steht nicht zu erwarten, dass die erneute Befragung der Zeugin ein völlig neues Licht auf den Fall werfen und zu einem anderen Urteil führen wird. Das sieht offenbar auch der BGH so und argumentiert: Selbst wenn der Vater nicht genau gewusst haben sollte, in welch desolatem seelischem Zustand Tim war, so hat er sich dennoch der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht, weil er dem Sohn den Zugang zur Tatwaffe ermöglicht hat. Der Prozess gegen Jörg K. war der erste in Deutschland gewesen, bei dem ein Unbeteiligter nach einem Amoklauf verurteilt wurde. Man könnte das Urteil gleichsam als Warnsignal an alle Waffenbesitzer verstehen: Wer seine Waffe nicht sachgemäß wegschließt, kann für Taten belangt werden, die er selbst nicht verübt hat.

Es wird nicht mehr um den Tatablauf gehen

Es wird im zweiten Prozess nicht mehr darum gehen, wie Tim K. an die Waffe gelangte, und auch nicht um den Tatablauf. Beides wurde hinreichend durchleuchtet, befand der BGH. Die bevorstehenden zehn Verhandlungstage werden sich im Kern um zwei Fragen drehen: In welchem psychischen Zustand befand sich der Täter, und wusste sein Vater darüber Bescheid? Wie auch immer die Antworten ausfallen, auf das Urteil dürften sie keinen allzu großen Einfluss ausüben.

Der Amoklauf von Winnenden und die Folgen

11. März 2009 Der 17-jährige Tim K., ein ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule, drang am Morgen des 11. März 2009 in die Winnender Schule ein. Bewaffnet mit einer großkalibrigen Pistole seines Vaters, tötete er dort acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen. Auf der Flucht durch den angrenzenden Schlosspark erschoss Tim K. einen Gärtner des Zentrums für Psychiatrie. Vor der Klinik zwang er einen Autofahrer, ihn mitzunehmen. Nach einer Odyssee durch den Großraum Stuttgart entkam der Fahrer in Wendlingen (Kreis Esslingen) aus dem Auto. Bevor er von der Polizei gestellt wurde, tötete der 17-Jährige zwei Männer in einem Wendlinger Autohaus. Danach beging er auf einem Parkplatz mit der Pistole Selbstmord.

Waffenrecht Der Amoklauf löste eine Diskussion über eine Verschärfung des Waffenrechts aus. Beschlossen wurden unangekündigte Kontrollen bei Waffenbesitzern und die Anhebung des Mindestalters von 14 auf 18 Jahre für den Umgang mit großkalibrigen Waffen. Der Vorschlag des Landesinnenministers Reinhold Gall (SPD), großkalibrige Waffen im Schießsport komplett zu verbieten, wurde zu Beginn dieses Jahres von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) abgelehnt. „Wir stehen nach wie vor zu dieser Forderung“, sagt ein Sprecher Galls. Laut Regierungspräsidium Stuttgart wurden bis zum 11. März dieses Jahres 135 000 Schusswaffen als Reaktion auf den Amoklauf abgegeben.

Sicherheit an SchulenNach den Osterferien 2012 wurden alle öffentlichen Schulen im Land mit Pagern ausgestattet. Mit diesen Alarmierungsgeräten können in Krisensituationen Warnungen verschickt werden. Zudem trat eine Verwaltungsvorschrift über das Verhalten an Schulen bei Gewalttaten in Kraft. Baumaßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit liegen im Ermessen der Kommunen als Schulträger. Sie sind nicht Teil der Landesbauvorschrift