Reportage: Robin Szuttor (szu)

In der Cluß’schen Brauerei isst er Schinkenwurst mit Brot, trinkt ein Fläschchen Mineralwasser. Danach marschiert er nach Eglosheim zu seiner Schwägerin. Er sagt ihr, er gehe jetzt nach Mühlhausen, um die Kinder abzuholen. Er bittet sie um ein frisches Hemd, seines ist völlig durchgeschwitzt. Seine Nichte begleitet ihn zurück zum Bahnhof, er unterhält sich mit ihr über die Tanzstunde. Weil noch Zeit ist, trinkt er im Bahnhofshotel eine Tasse Kaffee. Mit dem Ein-Uhr-Zug fährt er nach Bietigheim. Dort gibt er noch einige Abschiedsbriefe auf, unter anderem an seine Schwester in Berlin („Nimm Gift! Ernst“), an seinen Rektor und an das „Neue Tagblatt“ in Stuttgart. Er kehrt im Gasthaus zur Krone ein, isst Obst und Hefekranz. Von dem viertel Liter Wein lässt er das meiste stehen. Es ist um Mitternacht, als er schließlich anhebt, in Mühlhausen sein Werk zu vollenden.

 

Vom Vulkan, der in mir brütet und kocht, hat kein Mensch eine Ahnung. Es kommt die Stunde, da will ich lärmen und Skandal machen, dass euch die Ohren dröhnen. Ich werde Würgeengel sein im Haus, der Würgeengel des Mitleids. Dann will ich die Hölle zum zweiten Mal aufrufen. Ich will euch meinen Hass in den Kopf gerben und in den Bauch löchern, und meines Hasses Flamme soll eure Häuser verzehren und mein Haus und meines Vaters Haus und das Warenhaus dazu.

Mit seinem Benzinfeuerzeug steckt er mehrere Scheunen in Brand. Dann beginnt er seine Wanderung durch den Ort, das Gesicht mit einem schwarzen Schleier seiner Frau bedeckt, in jeder Hand eine Mauserpistole. Er legt an weiteren Stellen Feuer und schießt auf alle Personen männlichen Geschlechts. Dass er auch zwei Mädchen, drei Frauen sowie zwei Stück Vieh trifft, sei keine Absicht gewesen, versichert er später. Es gibt acht Tote und zwölf Schwerverletzte, von denen einer kurz darauf stirbt. Wagner wird schließlich von einem Schutzmann und einem Eisenarbeiter gestoppt, die ihm mit einem Säbel und einer Feldhacke auf Kopf und Hände schlagen. Wagners linker Unterarm muss später amputiert werden. Das Monster ist niedergestreckt. 198 Patronen finden sich noch in der Handtasche seiner Frau, die er bei sich trägt. Da Wagner noch atmet, bringt man ihn in das leer stehende Armenhaus. Die Menge möchte ihn am liebsten lynchen.


Ein billiger Spaß, mit dem Finger auf mich zu deuten. Jeder von euch gedächte besser seiner eigenen Sauerei. Ihr nehmet Anstoß an meiner Sünde? O der Lüge! Die allergrößte Freude hat sie euch bereitet. Das war ein Fressen für eure schmutzigen Rüssel . . . Wenn ich das Geschlechtliche in meinem Leben abziehe, war ich von allen Menschen, die ich kenne, weitaus der beste.

Nach der Untersuchungshaft in Heilbronn wird Wagner von Robert Gaupp und einem zweiten Psychiater untersucht. Beide bescheinigen ihm krankhaften Verfolgungswahn. Das Gericht stellt die Strafverfolgung ein, Wagner kommt in die Heilanstalt von Winnenden, wo knapp hundert Jahre später ein Amoklauf noch schrecklicheren Ausmaßes das Land erschüttert.

Wie nach der Tat des Tim K. ruft man auch damals nach Konsequenzen. Etwa die Aufrüstung der Polizei mit Schusswaffen oder Sperrstunden in Wirtshäusern (wegen der düsteren Andeutungen seinerzeit am Lehrerstammtisch). Trittbrettfahrer kündigen an, das von Wagner Begonnene demnächst vollenden zu wollen. Inzwischen hat auch der Sensationstourismus eingesetzt – allein zur Beisetzung der Opfer kommen 5000 Menschen. In Mühlhausen warten schon Postkartenverkäufer auf sie. Wagner beherrscht die Schlagzeilen.