Reportage: Robin Szuttor (szu)

In Winnenden erhält er eine Einzelzelle, bekommt monatlich seine Beamtenpension ausgehändigt, darf Besuch empfangen, verfasst Dramen und kann sie in der Anstalt drucken lassen. Robert Gaupp, Direktor der Tübinger Klinik für Gemütskrankheiten, wird den Anstaltsinsassen 25 Jahre bis zu dessen Tod begleiten. „Ich erwartete einen furchtbaren Gewaltmenschen von tierischer Brutalität“, schreibt der Arzt nach dem ersten Treffen, „ein ernster, gramgebeugter Mann in würdiger Haltung trat mir entgegen, höflich, bereit, sich in alles zu fügen, in seinem ganzen Benehmen ein gebildeter Mensch.“ In den 20er Jahren gibt es eine Initiative zur Freilassung Wagners – 1924 besucht ihn sogar der württembergische Innenminister Eugen Bolz. Doch Wagner bleibt interniert. Am 27. April 1938 stirbt er an einer Lungenkrankheit.

 

Noch niemand hat sich die Mühe genommen, in meiner Seele zu lesen. Sie sehen bei mir nur Schuld und Verworfenheit. Ich verlange darum keine Nachsicht von euch, weil ich keine gegen euch walten lassen will. Ich will mir ein steinern Herz zulegen und eine Stirne von Demant. Ungehemmter Haß soll meine Pläne schmieden, und meiner Rache Wut soll jede Regung von Mitleid ersticken.

Gaupp entwickelt am Fall Wagner seine Theorie der „echten Paranoia“, die im Gegensatz zur Paranoia im Rahmen einer Schizophrenie nicht mit der „Verblödung“ endet. Damit macht er sich einen Namen in der Fachwelt. Für Gaupps Karriere ist Wagner ein Glücksfall. Umgekehrt findet Wagner in dem Mediziner einen Menschen, der sich brennend für ihn interessiert und ihm Anerkennung schenkt. Keiner kommt ihm so nahe wie er. Zwei, die sich brauchen.

„Der Fall Wagner kann heute noch helfen, Amokläufe wie in Winnenden oder im amerikanischen Newtown zu verstehen – leider kennen viele junge Psychiater ihn gar nicht mehr“, sagt Bernd Neuzner, Psychologe und Mitautor des Standardwerks über Wagner. Es gebe viele Parallelen bei den Tätern – so das Motiv der Zurücksetzung, der Kränkung sowie der Rache. „Und es muss eine große Rache sein, eine die weithin ausstrahlt, eine inszenierte Rache mit genau kalkulierter Resonanz in den Medien.“

Man verbrennt Wagners Leib, verstreut seine Asche in alle Winde, kein Grabstein. Sein Gehirn wird entnommen und landet nach einer Odyssee über Berlin, Freiburg und Neustadt/Schwarzwald am Universitätsklinikum Düsseldorf. Dort lagert es immer noch. 1994 nimmt es Bernhard Bogerts, heute Direktor der Uniklinik für Psychiatrie in Magdeburg, unter die Lupe. Er diagnostiziert eine kleine Veränderung in der mittleren unteren Schläfenhirnrinde – „eine Stelle, die limbische Areale mit dem Neokortex verbindet und wichtig für die emotionale Wahrnehmung ist“. Einen ähnlichen Befund hatte der Amokläufer Charles Whitman. Das gleiche Hirnareal sei auch bei manchen schizophrenen Psychosen betroffen, sagt Bogerts. Aber diese Anomalie allein mache noch keinen Menschen zum Mörder. Dazu braucht es mehr.