Wegen Diebstahls und Körperverletzung ist ein junger Mann angeklagt. Ein klarer Fall? Mitnichten.

Waiblingen - Die Anklage liest sich eindeutig. Räuberischer Diebstahl, Faustschläge ins Gesicht, Hämatome, Schmerzen an Zähnen und Schulter: Die Staatsanwältin berichtet am Waiblinger Amtsgericht von einem Vorfall am Fellbacher Raiffeisenplatz. Der Platz am Bahnhof gilt als bekannter Ort von Auseinandersetzungen, als Umschlagplatz für Drogen. Auch der 25 Jahre alte Angeklagte hat Erfahrungen mit Drogen. Steht er vor einem wahren Wortsinn kurzen Prozess?

 

Seine Fellbacher Schulkarriere endet früh

Das scheinbar klare Bild von dem Mann, der auf der Anklagebank sitzt, ändert sich im Laufe der Verhandlung. Geduldig fragt Amtsrichter Michael Kirbach nach, die Antworten des 25-Jährigen kommen zögerlich, leise und bedächtig. Seine Fellbacher Schulkarriere endet früh, nach zwei Wiederholungen der siebten Klasse schafft er zunächst keinen Schulabschluss. Stattdessen ist Manuel L. (Name geändert) sportlich aktiv, er spielt Handball, Fußball und Tennis. „Ich war wohl überfordert“, begründet er die Schulprobleme. Eine Lehre als Bauzeichner bricht er ab, aus gesundheitlichen Gründen. „Ich suchte eine Orientierung“, meint er. „Das sagt man, wenn man nicht weiß, was man mit dem Leben anfangen soll“, deutet Richter Kirbach.

Der angeklagte Diebstahl mit Körperverletzung trägt sich an einem Abend im August 2018 zu

Daran scheint sich nichts geändert zu haben. Manuel L. spricht über ein Studium der Betriebswirtschaftslehre, das er begonnen habe. Nach geduldigem Nachhaken des Amtsrichters wird klar: Der 25-Jährige praktiziert sogenanntes E-Learning, am Computer arbeitet er sich durch Lerneinheiten – maximal die Vorstufe eines Studiums. Wie das eines Tages mit dem inzwischen absolvierten Abschluss der Hauptschule als Basis klappen soll, hinterfragt Kirbach nur kurz.

Der angeklagte Diebstahl mit Körperverletzung trägt sich an einem Abend im August 2018 zu. Das Opfer ist ein früherer Schulfreund, dem der 25-Jährige irgendwann wieder begegnet. „Wir waren Freunde.“ Regelmäßige Treffen enden, als der Angeklagte, der einst neben Alkohol und Zigaretten auch Marihuana konsumierte, mit Depressionen in der psychiatrischen Klinik Winnenden behandelt wird: Die Trennung von der Freundin muss verarbeitet werden. Der Amtsrichter benötigt viel Geduld, um den Stand der Behandlung zu erfahren. Eine Verhaltenstherapie stehe an, es fehle an Selbstvertrauen, er habe kaum Kontakte, erfährt Kirbach.

An jenem Abend im August 2018 sollte es eine Aussprache geben

Der frühere Schulkamerad beginnt während des Klinikaufenthalts, ihn schriftlich zu drangsalieren. „Er beleidigte mich“, blickt Manuel L. zurück, immer wieder, schriftlich per Smartphone. Selbst seine Mutter wird beschimpft, per Whats-App nimmt der Kamerad Kontakt auf, sendet teils Sprachnachrichten und fordert Geld. Aber warum ging der Schulfreund die Familie so an? „Vielleicht, weil seine Eltern arm sind, und wir Haus und Autos haben“, überlegt der 25-Jährige.

An jenem Abend im August 2018 sollte es eine Aussprache geben, weil „er nicht aufgehört hat mit den Chats“. Wer das Treffen vorschlug? Daran kann sich L. nicht mehr erinnern. Jedenfalls eskaliert die Situation. Der 25-Jährige lässt sich das Smartphone des vermeintlichen Freundes geben, behält es und schlägt ihm „drei, vier Mal ins Gesicht“. Warum? Der Richter bekommt keine Antwort auf die Frage und sinniert über Möglichkeiten. Als er von Wut und Provokation spricht, meint L.: „So war’s.“

Die auf CD festgehaltenen Bedrohungen und Beleidigungen stuft er so ein

Am verhängnisvollen Abend flüchtet er mit dem Fahrrad des Opfers. Das 750 Euro teure Handy wirft er in ein Gebüsch, auch das Fahrrad lässt er später liegen, dann geht er nach Hause – in eine Stuttgarter Wohngemeinschaft. Dort bekommt er alsbald Besuch von der Polizei. Die Beamten brechen die Tür auf und durchsuchen sein Zimmer. „Ich mache nachts nicht auf“, sagt Manuel L. Was der verprügelte Ex-Freund zu allem sagt? Der als Zeuge Geladene erscheint nicht vor Gericht. Der Versuch des Richters, ihn in einer Verhandlungspause zu kontaktieren, scheitert. Die Mobilnummer ist abgeschaltet. Michael Kirbach verzichtet auf dessen Aussage. Stattdessen beugen sich Staatsanwältin, Anwalt, Schöffinnen und er über Fotos, die die damaligen Verletzungen zeigen. „Eine geplatzte Lippe, Blut an einer Augenbraue, Abschürfungen und Schwellungen“, beschreibt Kirbach. „Die Verletzungen sind eher leichterer Natur und wohl folgenlos ausgeheilt“, meint er. Die auf CD festgehaltenen Bedrohungen und Beleidigungen stuft er so ein: „Ich habe schon Schlimmeres gesehen.“ Aber er könne nachvollziehen, dass es ein Treffen gab, um das zu klären. „Der Fall ist eigentlich zu groß für ein Schöffengericht“, fasst Kirbach zusammen. Die Attacke von Manuel L. vor eineinhalb Jahren war „eine spontane Tat, aus dem Frust heraus. Er wollte auch seine Mutter verteidigen“. Er habe zwar erkennbar Schwierigkeiten, sein Leben in den Griff zu bekommen, sei aber „auf guten Weg“. Vorstrafen hat er nicht. Nun muss der 25-Jährige 400 Euro an die Staatskasse zahlen – so hoch ist seine monatliche staatliche Unterstützung – damit werde das Verfahren eingestellt. Die Staatsanwältin und der Anwalt nicken. Manuel L. und der Schulkamerad von einst sind sich seit dem Vorfall am Raiffeisenplatz nicht mehr begegnet.