Etwa eine Million Menschen in Baden-Württemberg können nicht mit Buchstaben umgehen. Eine neue Kampagne soll das ändern. Kann es gelingen? Zu Besuch bei einem Alphabetisierungskurs der Volkshochschule.

Region: Verena Mayer (ena)

Stuttgart - Erst kommt ein Strich, dann ein kleiner Bauch oben, dann ein kleiner Bauch unten – dann steht da an der grünen Tafel wohlgenährt das große B. B wie Banane oder B wie Bonbon. B wie Bestens! Da könnte man sich gleich noch das S vorknöpfen. S wie Sehr gut! Eine schwungvolle Kurve nach links, dicht gefolgt von einer rasanten Kurve nach rechts. Ganz einfach. Wobei, ganz einfach geht hier gar nichts. Kein Bauch und keine Kurve. Das kann ja auch nicht anders sein, wenn man jemandem, der kein Erstklässler ist, erklären muss, wie er ein B malen muss und dann auch aussprechen. Die Schüler, die sich an diesem Mittag in der Volkshochschule in der Stuttgarter Ostendstraße eingefunden haben, haben die erste und manch andere Klasse seit vielen Jahren hinter sich. Richtig lesen und schreiben können sie trotzdem nicht, schon gar nicht den Begriff, den die Wissenschaft für sie gefunden hat: funktionale Analphabeten.

 

Sie heißen so, weil die Schüler ihre irgendwann durchaus erworbenen Schriftkompetenzen nicht funktional einsetzen können. Mindestens 7,5 Millionen solcher Analphabeten gibt es in Deutschland. Für die Mehrheit dieser Menschen ist Deutsch die Muttersprache. Als die Uni Hamburg diese Zahlen vor fünf Jahren präsentierte, sind sehr viele Menschen in Deutschland sehr erschrocken. Fast acht Millionen Erwachsene, die nicht vernünftig lesen und schreiben können? Das sind mehr als 14 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Und fast doppelt so viele, wie bis dahin vermutet wurde.

In Baden-Württemberg, wo sich schätzungsweise eine Million funktionale Analphabeten durchschlagen, hat sich das Land seither an einer nationalen Strategie zur Alphabetisierung beteiligt, mehr Geld für spezielle Kurse ausgegeben und nun, ganz frisch, eine Kampagne begonnen, die die Betroffenen aus ihrer „Schamecke“ holen soll. P wie Prima! Oder eher K wie Kann: Kann das gelingen?

Bei einer Schere darf das h nicht fehlen

Das Klassenzimmer im Stuttgarter Osten ist groß für fünf Schüler. Auf ihren Tischen liegen neben den Arbeitsheften und den Bleistiften Radiergummis. Computer schreibt man nicht mit K – weg damit. Der erste Buchstabe der Gans ist kein V – also: korrigieren. Und bei einer Schere darf das h nicht fehlen – besser also noch einfügen. Die Lehrerin wird bestimmt noch sehr viele Stunden unterrichten müssen, bis alle ihre Schüler das Schild, das an der Zimmertüre klebt, entziffern können. „Flucht- und Rettungsplan“ ist darauf zu lesen. Allerdings darf man die Leistung nicht verkennen, dass die drei Frauen und zwei Männer in das Gebäude hineingefunden haben.

Melanie Bella, so heißt die Lehrerin, malt mit weißer Kreide große Buchstaben an die Tafel: Sani. „Das ist ja mein Name“, ruft die Frau, die die Kreidezeichen, mit einem Fragezeichen in der Stimme, vorgesprochen hat. Sani strahlt, als sie von Melanie Bella ein Lob bekommt, das einer Eins plus samt Sternchen gleichkommt. Sani Rani, die in Wirklichkeit anders heißt, ist 61 Jahre. Vor mehr als 30 Jahren ist sie nach Deutschland gekommen. Die Sprache beherrschte sie schnell, die Schrift und die Lektüre jedoch sind für sie bis heute ein Buch mit sieben Siegeln.

Sani Rani legt die größten Distanzen zu Fuß zurück, weil sie beim Blick auf einen Netzplan nichts erkennen kann. Sie vertraut Fremden ihre Bankkarte samt Geheimzahl an und bittet sie, am Automaten Geld für sie abzuheben, weil sie selbst in diesem Moment aus irgendwelchen Gründen nicht dazu in der Lage sei. Ungezählte Male hatte Sani Rani Ärger in Geschäften, weil sie ihre Einkäufe nicht bezahlen konnte. Wie soll sie auch wissen, ob ihr Geld reicht, wenn sie die Preistafeln nicht lesen kann? Muss sie Formulare unterschreiben, kritzelt sie irgendwas an die markierte Stelle. Die Post erledigt seit jeher ihr Mann. Was, wenn er den Brief verschwiegen hätte, in dem das Jobcenter mitteilte, dass es Frau Rani den Alphabetisierungskurs bezahlt?

Mehr als die Hälfte aller Analphabeten haben einen Job

An den Volkshochschulen in Baden-Württemberg finden pro Jahr rund 100 Kurse statt, in denen 900 Analphabeten unterrichtet werden. Ginge es in dieser Größenordnung weiter, würde es 1000 Jahre dauern, bis alle funktionalen Analphabeten einen Kurs besucht hätten. Das ist natürlich Quatsch, mit h. Deshalb, so sieht es die Kampagne des Landes vor, warten die Lehrer künftig nicht mehr auf ihre Schüler, sondern suchen sie – und zwar an ihrem Arbeitsplatz. Immerhin haben 57 Prozent aller Analphabeten einen Job. Geht das Konzept mit dem freundlichen Namen Arobi auf, gibt es in möglichst vielen Betrieben sensible Vorgesetzte, die verschämte Mitarbeiter für eine zweite Chance und damit einen Arobi-Kurs begeistern können, der optimalerweise während der Arbeitszeit stattfindet. Vielleicht beteiligen sich die Unternehmen sogar an den Kosten. Arobi steht für arbeitsplatzorientierte Grundbildung.

Alphabeten haben von Analphabeten zum ersten Mal bewusst in den 70er Jahren hören können. Mit der Einführung neuer Technologien und Maschinen veränderten sich auch einfache Tätigkeiten so, dass illiterate Arbeiter sozusagen enttarnt wurden. Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, sickerte nur langsam ins Bewusstsein der Politik. Wie die Erkenntnis, dass das Nicht-lesen-und-schreiben-Können nicht nur für die Betroffenen tragisch ist. Weil Analphabeten zumeist sehr viel Energie darauf verwenden, ihre Unfähigkeit zu verstecken, fehlt diese Energie für eine sinnvollere und produktivere Arbeit. Unternehmer reden von einem immensen volkswirtschaftlichen Schaden. Außerdem interessieren sich Analphabeten weniger für politische Zusammenhänge und engagieren sich weniger in Ehrenämtern. Wer einmal in der Kaste steckt, in der soziales und kulturelles Kapital rar sind, Schwierigkeiten in der Schule ignoriert oder durch Mogeln kaschiert werden, kann ihr nur sehr schwer entkommen. Einmal abgehängt, immer abgehängt.

Die Übungen, die Melanie Bella ihren Schülern verordnet, sind höchst unterschiedlich. Eine soll Buchstaben, die ein imaginärer Sturm durcheinandergewirbelt hat, sortieren. So dass aus zwei S, einem E, einem K, einem I und einem N ein Kissen wird. Einer soll alle Worte markieren, die mit kr oder tr beginnen. Krieg zum Beispiel oder trinken. Eine lauscht einer Stimme aus dem Computer, der ihr das Wort Tomate zur fehlerfreien Niederschrift diktiert. Und noch ein anderer übt, ein scharfes S von einem weichen zu unterscheiden. Dass oder das?

Drei Euro kostet eine Unterrichtsstunde

Alphabetisierungsklassen sind immer sehr heterogen. Weil jeder Schüler einen unterschiedlichen Wissensstand hat. Melanie Bellas aktuelle Klasse in der Ostendstraße ist allerdings extrem heterogen. Vor wenigen Wochen wurden die Fortgeschrittenen mit den Anfängern vereint, weil ein spezielles Zuschussprogramm ausgelaufen ist. Wer das paradox findet, findet es wahrscheinlich auch widersprüchlich, dass Kursleiter wie Melanie Bella nur auf Honorarbasis beschäftigt werden. Wenn es gut läuft, gibt es pro 45 Minuten Unterricht 25 Euro, Vorbereitung inklusive. Dass zugleich Lehrer wie Melanie Bella so begehrt sind, dass die 39-Jährige auch noch einen Alphabetisierungskurs in Offenbach leitet, ergänzt dieses seltsame Bild auf beschämende Weise. Dabei ist es wohl eine logische Weise: Bekämen die Lehrer mehr Geld, würden die Kurse teurer. Wären die Kurse teurer, würden sie sich womöglich noch weniger Analphabeten leisten. Drei Euro kostet eine Unterrichtsstunde. Macht bei zweimal zwei Stunden pro Woche 240 Euro pro Semester. Das ist zwar so günstig, dass die Volkshochschule daran keinen einzigen Cent verdient, für die meisten Schüler hier aber trotzdem sehr viel Geld.

Mal fragen, wie Cordula Löffler all das findet? Cordula Löffler ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten und leitet dort unter anderem den Studiengang Alphabetisierung und Grundbildung. Er wurde vor sieben Jahren eingerichtet und ist so einzigartig, dass die Studenten sogar aus Österreich anreisen. Trotzdem sind es nicht mehr als fünf pro Semester. Die berufsbegleitende Ausbildung kostet 1000 Euro pro Semester. Bis die wieder drin sind, das dauert. Eine Teilantwort von Cordula Löffler geht darum so: „Es ist sehr ärgerlich, dass Bund und Länder nicht dafür sorgen, dass die Alphabetisierung im Bildungssystem verankert ist.“

Auch für die Lehrer muss etwas getan werden

Gäbe es diesen Anker, dann gäbe es für Lehrer wie Melanie Bella feste Stellen, von denen man leben kann. Bis jetzt ist es nämlich so: bietet eine Volkshochschule oder eine andere Bildungseinrichtung keinen Alphabetisierungskurs an, dann findet eben keiner statt. Zur idealen Lernwelt von Cordula Löffler gehört auch, dass sich mehr Lehrer gezielt fortbilden lassen und mehr Schulen einen speziellen Förderunterricht anbieten können. Kinder, die sich nur schwer mit Buchstaben anfreunden können, wird es immer geben. Dass ihr Problem zu oft nicht rechtzeitig diagnostiziert wird und sich zu einem funktionalen Analphabetismus auswächst, muss allerdings nicht so bleiben.

Wie also findet Cordula Löffler das alles? So: es ist wichtig, dass Analphabetismus mehr Beachtung findet. Aber es reicht nicht, mehr für die Schüler zu tun. Auch für die Lehrer muss mehr getan werden.

Demnächst wird ein Werbespot in den Kinos starten, der auf die Kampagne des Landes aufmerksam machen soll. Außerdem wird die Stuttgarter Volkshochschule mit Flyern und Broschüren auf die großen Arbeitgeber in der Stadt zugehen.

Melanie Bella denkt darüber nach, ihren Einsatz in Offenbach zu beenden. Schluss mit der aufwendigen Pendelei. In Stuttgart könnte sie dann außer Analphabeten auch Migranten unterrichten. Einen Teilzeitjob würde sie sich aber trotzdem noch suchen müssen.

Cordula Löffler wird ihren Weiterbildungsstudiengang zum Vollzeitstudiengang ausbauen. Damit entfällt die Teilnahmegebühr von 1000 Euro, was – so die Hoffnung – mehr Studenten anzieht.

Sani Rani verstaut ihr Übungsheft, in dem sich in den vergangenen 90 Minuten viele Buchstaben angesammelt haben. Die 61-jährige Frau ist eine ausgesprochen emsige Schülerin. Sie möchte die Worte so gut beherrschen, dass sie ihre Geschichte aufschreiben kann. Ob sie das wirklich schaffen kann? „Vielleicht. Wenn mir Gott die Zeit gibt.“