Einer Studie zufolge können rund eine Million Erwachsene in Baden-Württemberg nicht richtig lesen und schreiben. Das Land will künftig direkt auf Unternehmen zugehen, um berufstätige Analphabeten verstärkt zu unterstützen.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Stuttgart - Ein derartig hohes Ergebnis hätten wohl auch die Auftraggeber der Studie vorher nicht erwartet: Laut der 2011 veröffentlichten „Level-One-Studie“ der Universität Hamburg gilt beinahe jeder zehnte Deutsche als funktionaler Analphabet. Bundesweit können 7,5 Millionen Menschen zwar einzelne Wörter oder Sätze entziffern, verstehen aber nicht den Sinn des Gelesenen im Textzusammenhang. Man geht davon aus, dass in Baden-Württemberg rund eine Million Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können.

 

„Rund 57 Prozent der Analphabeten in Baden-Württemberg sind erwerbstätig“, betonte die Kultusstaatssekretärin Marion von Wartenberg (SPD) am Freitag in Stuttgart. Aus diesem Grund will das Kultusministerium gemeinsam mit zwölf Trägern im Land, darunter auch der Stuttgarter Volkshochschule (VHS), diese Menschen stärker in den Fokus nehmen. Über verschiedene Kurse am Arbeitsplatz sollen Analphabeten mehr unterstützt werden.

Bisher wenig Zulauf bei Kursen für Analphabeten

„Wir bieten zwar schon seit Jahrzehnten Kurse für Analphabeten an, hatten aber in Stuttgart jährlich nur maximal 100 Teilnehmer, obwohl in der Gegend rund 80 000 Menschen von Analphabetismus betroffen sein müssten“, erläutert Wolfgang Nagel, zuständig für die Grundbildung an der VHS. „Wir wollen nun direkt über die Firmen Kontakt zu den Menschen herstellen und ihnen Kurse anbieten.“ Speziell Firmen, die im Bauwesen und dem Reinigungsbereich angesiedelt sind, wolle man ins Visier nehmen, da laut der Studie in diesen Berufsfeldern ein großer Teil der erwerbstätigen Analphabeten tätig sei.

Wie man genau an die Firmen herantreten will, ist noch nicht ganz klar. „Da ist viel Taktik im Spiel“, sagt Nagel. Man wolle beispielsweise bewusst nicht den Begriff „Analphabetismus“ verwenden, sondern den Namen des Projektes „Arobi“ , was für „Arbeitsplatzorientierte Grundbildung“ steht. Ansonsten sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Firmen direkt abblocken würden mit der Erklärung, dass unter ihren Mitarbeitern keine Analphabeten seien. Außerdem sei es hilfreich, einen Kontakt herzustellen mit Vertrauenspersonen innerhalb der Betriebe, wie etwa dem Schichtleiter, der genau wisse, wer über welche Kenntnisse verfüge.

Firmen und Mitarbeiter sollen von den Kursen profitieren

„Wir wollen den Analphabetismus aus seiner Schamecke holen und den Leuten zeigen, dass sie nicht alleine sind“, sagt von Wartenberg. „Wir wollen ihnen sagen: Es gibt eine zweite Chance. Du musst dich nicht verstecken“. Für das Projekt stehen landesweit aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) bis 2018 rund 1,2 Millionen Euro für Angebote von den zwölf Trägern im Land zur Verfügung.

„Nach dem Schulabschluss ist es häufig schwer, die jungen Menschen zu erreichen, da viele nach schlechten Erfahrungen alles Schulische ablehnen“, weiß Nagel. „Sie lesen und schreiben nicht mehr und verlieren die wenigen erworbenen Kenntnisse.“ Die Hoffnung auf Kontakt zu ihnen liege nun beim Weg über den Arbeitsplatz.

Die Firmen sollen mit bestimmen, welche Kurse angeboten werden sollen und in welchem Umfang. Schließlich sollen beide profitieren, sagte von Wartenberg: Die Firmen könnten ihre Mitarbeiter anschließend besser einsetzen, gleichzeitig würden die Mitarbeiter etwas für die Sicherung ihres Arbeitsplatzes tun. Die VHS rechnet in den kommenden Monaten mit konkreten Zusagen der Unternehmen. Mit dem Betriebsratschef von Porsche Uwe Hück ist ein prominenter Botschafter aber schon einmal gefunden.