Die Nichtwähler wären mit 44,5 Prozent die mit Abstand stärkste Partei bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Das ist gefährlich für die Demokratie, kommentiert Katja Bauer.

In Nordrhein-Westfalen ist bei der Landtagswahl ein trauriger Rekord aufgestellt worden: Nur 55,5 Prozent Wahlbeteiligung gab es in dem bevölkerungsreichsten Bundesland noch nie seit dessen Bestehen. Schlimmer noch ist das Maß des Absturzes: Mehr als neun Prozent Wahlberechtigte weniger als vor fünf Jahren hielten es für sinnvoll oder hatten Lust, ihre Stimme abzugeben. Sechs von 13 Millionen Wahlberechtigten sagen Nein zur Wahl – und damit zur Kernhandlung einer funktionierenden repräsentativen Demokratie. Das sind mehr als CDU, SPD und Grüne zusammen an Stimmen erreichen.

 

Wie schon seit einigen Jahren üblich, wird auch bei dieser Wahl das so genannte „ehrliche“ Ergebnis ausgerechnet. Zwar führt der Begriff in die Irre, denn folgt das Wahlergebnis dem Wahlrecht. Aber es nennt sich „ehrlich“, weil es die Stimmen der Nichtwähler berücksichtigt, indem es sie behandelt, als würden sie einer Partei gegeben.

Denkt man so, dann sind die Nichtwähler mit 44,5 Prozent in Nordrhein-Westfahlen die stärkste Kraft, alle anderen rutschen einen Platz weiter nach hinten. Die CDU würde danach mit 20 Prozent nicht einmal die Hälfte erreichen, die SPD läge bei 15, die Grünen bei gut 10 Prozent. FDP und AfD wären nicht im Parlament.

Die große Lücke muss allen Parteien Sorgen machen

Das Gedankenspiel lässt sich noch in eine andere Richtung auf die Spitze treiben. Rechnet man zu den Nichtwählern jene, deren Stimme an Kleinstparteien ging, also zum Wahlergebnis zählt, aber im Parlament nicht widergespiegelt wird, dann tut sich eine große Repräsentationslücke auf.

Diese Lücke muss allen Parteien Sorgen machen. Denn Nichtwählen ist eine Abkehr. Abgesehen von denjenigen, denen einfach das Wetter am Sonntag zu schön war, zeigt Wahlforschung, dass es einen Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und Nichtwählen gibt. Zuhause bleiben also nicht diejenigen, die sich sagen: „Läuft! Die werden das schon ohne mich sehr gut machen.“ Zuhause bleiben die Frustrierten, Wütenden, die sich nicht oder nicht mehr vertreten fühlen. Überdurchschnittlich viele davon gehören zu sozial schwachen Milieus. Auch Erstwähler sind stark vertreten. Alle demokratischen Parteien haben massiv abgegeben.

Die Bürger verlieren Vertrauen in die Lösungskompetenz

Gesellschaftlich ist die Entwicklung gefährlich: Denn wenn die Bindungskräfte der Parteien schwinden, dann zeugt das mindestens von Desinteresse, viel eher aber von einem Verlust an Vertrauen in die Lösungskompetenz. Und vom Zweifel daran, dass es bei der Lösung von Problemen einen Unterschied macht, wen man wählt.

Das kann auch eine Quittung für die Erfahrungen mit Politik in den vergangenen Jahren sein: In der Pandemie erlebten die Menschen hautnah, wie dringend das Land an etlichen Stellen reformiert und modernisiert werden muss. Mit Corona wuchs zugleich die die Bedeutung und die politische Deutungsmacht außerparlamentarischer Protestbewegungen. Die Pandemie war eine Lektion darin, dass in der Realität von Social Media und Talkshows inzwischen häufig derjenige Gehör findet, der möglichst laut und scharf Partikularinteressen vertritt. Andere werden vergessen. Eine Nachfrage bei Pflegekräften, ob sich ihre Situation verbessert hat, lohnt dazu.

Die Hochwasserkatastrophe lenkte schmerzvoll die Aufmerksamkeit darauf, vor welche Mammutaufgabe der Klimawandel uns alle stellt. Und nun, seit bald drei Monaten, haben wir einen Krieg. Die Politik steht vor Reform- und Transformationsbergen, sie hat gleichzeitig offenkundig ein Vermittlungsproblem. Die bisherigen politischen Aushandlungsprozesse scheinen weniger Akzeptanz zu finden. Beteiligungsverfahren, Bürgerräte, Expertenräte können nur ein Teil der Lösung sein. Denn wenn der Souverän keine Lust mehr hat, mitzumachen, helfen sie wenig.

Für Nichtwähler ist bei den Parteien keine Kapazität

So ist es also entscheidend, dass Parteien Mut zur Kontroverse, zum Ringen um Lösungen mit unterschiedlichen Angeboten finden. Dabei haben sie gleich zwei Zielkonflikte. Der Wähler mag erstens keinen Streit. Und die Parteien richten ihre Aufmerksamkeit zweitens vor allem auf diejenigen, die sie bereits gewählt haben. Nichtwähler zu mobilisieren, dafür hat mancher im Wahlkampf keine Kapazität. Und genau an diesem Punkt haben dann Parteien oder Protestbewegungen eine Chance, mit dem richtigen Thema wie ein Schwamm die Wütenden aufzusaugen. In der Konsequenz zwingen sie damit die demokratischen Parteien zu Entscheidungen, die populistischen Mechanismen mehr gehorchen als lösungsorientierten Ansätzen. Ein Teufelskreis.