Persönliche Interessen, versteinerte Konflikte – das Bedürfnis nach Veränderung wird auch die neue große Koalition in Italien nicht befriedigen können. Es greift wesentlich tiefer. Der StZ-Korrespondent Paul Kreiner analysiert die schwierige Situation.

Rom - Am Dienstag waren sie wieder mal alle beim Staatspräsidenten. Alle Fraktionen des Parlaments, von den „Sprachlichen Minderheiten im Aostatal“ und sämtlichen anderen Splittergruppen angefangen bis hin zu den einstmals Großen: den Sozialdemokraten des zurückgetretenen Pier Luigi Bersani und dem „Volk der Freiheit“ des hoffnungsfroh zurückkehrenden Silvio Berlusconi. Der Staatspräsident spricht auf der Suche nach einer parlamentarischen Mehrheit immer mit allen; das Ritual war auch diesmal das ewig gleiche. Zudem tragen die Parteien stets das Gleiche vor, zum Beispiel: „Wir nehmen nur dann an einer Regierung teil, wenn unsere Vorstellungen umgesetzt werden“ (Silvio B.). Oder: „Berlusconi bleibt immer unser Gegner“ (der Sozialdemokrat Dario Franceschini).

 

Gewiss, diesmal waren auf starken Druck der Wähler und des Staatspräsidenten, wenn auch leise, ein paar Reformversprechen zu hören. Insgesamt aber hatte es den Eindruck, als drehten Italiens Parteien das berühmte Wort aus Tomasi de Lampedusas „Gattopardo“ zur Abwechslung einmal um: „Damit sich alles ändern kann, muss alles bleiben, wie es ist.“ Und wer den Politikern mit dem grassierenden Unbehagen des Wählers kam, der traf auf eine Haltung, wie sie – dem Prinzip nach – schon Bert Brecht bitterböse karikiert hat: „Das Volk hat das Vertrauen der Parteien verscherzt. Wäre es da nicht einfacher, die Parteien lösten das Volk auf und wählten ein anderes?“

Silvio Berlusconi muss gehen

Silvio Berlusconi muss gehen

Was Staatspräsident Giorgio Napolitano in seiner gewaltigen „Ruckrede“ vom Montagabend nicht sagen konnte, was im Land aber alle wissen: Italien kann sich aus seiner Versteinerung erst lösen, wenn Silvio Berlusconi geht. Als Politiker und als Beherrscher der Medien. Zurücktreten und politische Enthaltsamkeit geloben reicht nicht. Solange er sich nicht mindestens in seine Villa auf den Bahamas zurückzieht und sein Fernsehimperium – wie es Kartellbehörden und rechtskräftige Gerichtsurteile seit fast zwanzig Jahren vergeblich fordern – abspeckt, womöglich gar verkauft, wird sich in Italien nichts bewegen: Es sind dann immer noch Interessen Berlusconis im Spiel.

Monopol des Mitte-rechts-Lagers

Monopol des Mitte-Rechts-Lagers

„Die Italiener“ haben Berlusconi nicht nur deswegen immer wieder gewählt, weil er – bis heute – ein genialer Wahlkämpfer ist oder weil sie ihn als Politiker so überzeugend finden. Vielmehr kamen sie an ihm nicht vorbei. Berlusconis Langlebigkeit beruht auch darauf, dass er das Mitte-rechts-Lager monopolisiert hat. Wer in Italien nicht bereit ist, links zu wählen, unterstützt seit 1994 zwangsläufig immer stärker Berlusconi. Dieser hat die anderen Kandidaten und die kleinen, auch extremen Parteien des rechtskonservativen Spektrums zum Zweck der Stimmenmaximierung in ein Bündnis gesogen oder wie die Christdemokraten, die Alleanza Nazionale, in die Unbedeutsamkeit gedrängt.

Das System der Abhängigkeiten

Das System der Abhängigkeiten

Da in Italien traditionell die beiden Hauptlager etwa gleich stark sind und die Zahl der Wechselwähler gering ist, konnte sich Berlusconi immer auf einen stabilen Sockel von Kernwählern stützen. Seine Herrschaft im Mitte-rechts-Lager hielt er aufrecht, indem er – mit Posten, mit Geld – ein System von Abhängigkeiten schuf; da es keine echten Parteitage und statt Wahlen nur Akklamation gab, kamen innerparteiliche Rivalen gar nicht erst hoch. Strömungen, die im linken Lager immer wieder zum Zerfall und zur Neugründung von Parteien geführt haben, drangen in Berlusconis „Forza Italia“, im „Haus der Freiheiten“ oder dem „Volk der Freiheit“ – wechselnde Namen, immer die gleiche Führerstruktur – praktisch nicht einmal an die Oberfläche.

Das linke Lager ist zerstritten

Das linke Lager ist zerstritten

Berlusconi hat also das rechte Lager auf sich allein zugeschnitten. An politischen Diskussionen ist er weit weniger interessiert als an ganz persönlichen, seinen geschäftlichen oder gerichtlichen Bedürfnissen. Die linke Opposition stellte ihn deshalb immer als das Böse im Staat schlechthin dar; die Gegnerschaft zu Berlusconi ist bis heute der beinahe einzige Kitt, der die Linken zusammenhält. Anders als in Deutschland, wo links und rechts, Union und SPD, sich im Ernstfall zu Regierungsbündnissen zusammenraufen, gilt in Italien jede Große Koalition – weil zwangsläufig mit Berlusconi – als Tabu. Und sogar jetzt noch, da der Staatspräsident die Große Koalition praktisch von oben durchgesetzt hat, lehnen viele Linke eine Regierung mit Berlusconi deswegen ab, weil sie Angst haben, dieser könnte, wenn er in ein paar Wochen im Bunga-Bunga- oder in seinem Steuerhinterziehungsprozess verurteilt wird, aus Wut gleich das ganze Projekt hochgehen lassen. Das heißt: da hat einer die gesamte Politik in Geiselhaft genommen.

Kein ziviles Zusammenleben mehr

Kein ziviles Zusammenleben mehr

Die gegenseitige Abgrenzung über zwei Jahrzehnte hinweg, der erbitterte Dauerkampf gegeneinander, in welchem – wie Staatspräsident Napolitano rügte – „die Idee des zivilen Zusammenlebens verloren gegangen ist“, hat vieles verhindert in Italien. Träte Berlusconi ab, gäbe er seine Partei frei, könnte sich in der rechten Hälfte des politischen Spektrums eine ganz neue Kraft entwickeln. Sie könnte endlich im eigenen Inneren eine politische Richtungs- und Zukunftsdiskussion führen; sie müsste nicht mehr die Privatinteressen ihres Chefs und Geldgebers bedienen; sie wäre frei für den offenen, sachlichen, demokratischen Diskurs mit anderen Parteien – und aktuell für die umfassende nationale Zusammenarbeit, die Große Koalition, die Italien in der Krise bräuchte.

Ein Generationswechsel ist nötig

Das hätte Folgen für die Opposition. Der „Generationswechsel“, den der Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, bei den Sozialdemokraten so stürmisch fordert, bedeutet ja nicht einfach, dass „biologisch“ Altes gegen Junges getauscht wird. Er bedeutet das Auswechseln einer Garde, die zwei Jahrzehnte lang im Kampf gegen Berlusconi den Hauptinhalt ihrer Politik gesehen, die sich darin verschlissen hat und die – wie bei Pier Luigi Bersani unverkennbar – nun nicht in der Lage ist, neue Horizonte aufzuziehen.

Ein Generationswechsel ist nötig

Dieser Generationswechsel, wie er mit dem designierten Regierungschef Letta eingeleitet wird, würde den Abschied von einer grauen Eminenz wie Massimo D’Alema bedeuten, der im undurchsichtigen Arrangement mit Berlusconi sein Auskommen gefunden hat. Im Hintergrund der sozialdemokratischen Partei zieht er seine Fäden nach Gutdünken. Erst wenn die Fixierung auf Berlusconi wegfällt, kommt bei der Opposition der überfällige politische, sach- und problemorientierte Dialog in Gang.

Neue Lust am Engagement

Neue Lust auf Engagement

Beppe Grillo und Mario Monti, der eine mit Marktschreierei, der andere mit stiller Überzeugungskraft, haben gezeigt, was daraus werden kann: Während sich normale Italiener zwar gerne und wortreich über Politik erregen, sich aber von ihr angeekelt abwenden, haben Monti und Grillo bei politikfernen Bürgern die Lust am Engagement geweckt. Schon über diese beiden Listen sind 240 gänzlich neue Abgeordnete ins Abgeordnetenhaus und in den Senat gelangt. Sie sind an den Personalspielchen und Palastintrigen ebenso wenig interessiert wie ihre mehr als 200 Parlamentarierkollegen in den Reihen der Sozialdemokraten, die von der Basis ausgesucht und erstmals per Urwahl bestimmt worden sind. Auch an dieser Wende der Partei war zum Teil Grillo schuld: er steckte das junge, sozialdemokratische Parteivolk an, und Parteichef Bersani gab den Wünschen von unten nach. Das heißt: außerhalb von Berlusconis „Volk der Freiheit“ existiert eine neuartige Generation im Parlament bereits; sie muss nur ihre Gestaltungsmöglichkeiten bekommen.

Die Gewerkschaften blockieren

Die Gewerkschaften blockieren

Es erwacht, teilweise, bürgerliches Engagement. Das könnte einhergehen mit der Förderung von etwas anderem, das in Italien bis jetzt nur eine kleine Rolle spielt und das von der Politik nicht im Geringsten vorgelebt wurde: dem Denken in Kategorien des Gemeinwohls. Doch neben dem Parlament und den Parteien ist noch eine weitere, große Baustelle offen: die der Gewerkschaften. Wenn es noch Beton gibt in Italien, dann hier.

Vor allem beim linken Dachverband CGIL und den kommunistisch orientierten, freien Basisgewerkschaften denkt man noch in Kategorien des Klassenkampfs, des Gegensatzes von Kapital und Arbeit. Feindschaft statt an gemeinsamem Interesse ausgerichtetes Zusammenwirken, Blockade jeder Reform des versteinerten Arbeitsrechts, Vorabmobilisierung gegen betriebswirtschaftlich notwendige Fle- xibilisierungen, sinnentleerte Streikrituale – hier liegen mit die größten Hemmschuhe für Italiens Wirtschaft. Hier ist aber keine Änderung, kein Reformer in Sicht, so tief und so langwierig die Krise auch sein mag.