Die Bundestagswahl hat mit dem Einzug der AfD in den Bundestag eine Zäsur gebracht. Aus Sicht der Meinungsforscher hat nur ein kleinerer Teil der AfD-Wähler aus Überzeugung für deren Positionen gehandelt – die Mehrzahl ist enttäuscht von den etablierten Parteien.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Ist dies der Niedergang der Volksparteien? Oder haben Union und SPD die Bürger diesmal nur falsch verstanden? Speziell die Sozialdemokraten können das Prädikat Volkspartei kaum noch beanspruchen. Derweil werden die kleinen Parteien bedeutender als je zuvor. Die Meinungsforscher der Forschungsgruppe Wahlen (für das ZDF) und von Infratest dimap (für die ARD) haben zu den Wählermotiven bis zum Sonntag intensiv geforscht. Die spannendsten Aussagen im Überblick. Welche Motive beherrschten die Wahl? Der Einzug der AfD in den Bundestag ist das hervorstechendste Ergebnis dieser Wahl – eine Zäsur. Die Rechtspopulisten haben vor allem das Nichtwählerlager mobilisiert und von dort laut ARD-Analyse fast 1,2 Millionen Stimmen erhalten. Damit hat sie zur gestiegenen Wahlbeteiligung beigetragen. Immerhin eine gute Million Wähler kamen von der Union, 500 000 von SPD und 430 000 von der Linkspartei.

 

Gründe für die Wählerwanderung finden sich in zentralen Sorgen aller Befragten: 70 Prozent meinen, dass die Gesellschaft weiter auseinander driftet. 62 Prozent fürchten, dass die Kriminalität künftig massiv zunimmt. Und 46 Prozent sorgen sich, dass der Einfluss des Islam in Deutschland zu stark wird. Es ist eine Mixtur von Motiven – deutlich wird die Angst vor sozialer und kultureller Veränderung.

Als wahlentscheidend wurden benannt: die Bildungspolitik (von 64 Prozent), Terrorismusbekämpfung (59), gute Absicherung im Alter (57) und die Zuwanderung von Flüchtlingen (27 Prozent). Die Arbeitslosigkeit als wichtigstes Thema spielt nur noch für acht Prozent die Hauptrolle, und 84 Prozent der Wähler finden ihre persönliche wirtschaftliche Lage gut oder sehr gut. Wer hat die AfD gewählt? Die AfD bindet Protest und Unzufriedenheit einer Wählergruppe, die – mit Parallelen zur Linkspartei – ein erheblich gewachsenes Wohlstandsgefälle sowie eine schlechte Zukunftsvorbereitung Deutschlands reklamiert. Doch obwohl sie überdurchschnittlich oft von Arbeitern und Arbeitslosen gewählt wurde, handelt es sich bei der AfD-Anhängerschaft keineswegs nur um Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung. Knapp jeder Dritte bezieht ein mittleres Einkommen, fast 40 Prozent verdienen sogar überdurchschnittlich gut.

Bei Männern ist die AfD annähernd doppelt so stark wie bei Frauen. Im Osten konkurriert sie bei allen unter 60-jährigen Männern sogar mit der CDU, die hier in dieser Gruppe zweistellig einbricht. Was treibt die AfD-Wähler an? Die Mehrheit der AfD-Wähler wollte den etablierten Parteien schlicht einen Denkzettel verpassen: 60 Prozent ließen sich von Enttäuschung über andere Parteien leiten, lediglich 31 Prozent machten ihr Kreuz bei der AfD, weil sie von ihr überzeugt sind.

Die meisten Anhänger der Altparteien wünschen sich ein weltoffenes Land – allein bei den AfD-Wählern legen 85 Prozent Wert auf nationale Grenzen. Sämtliche AfD-Wähler sind unzufrieden mit Merkels Flüchtlingspolitik. Zudem meinen 100 Prozent der AfD-Anhänger, dass abgelehnte Asylbewerber schneller abgeschoben werden sollten. Je 97 Prozent sorgen sich, dass der Islam immer stärker wird und dass Flüchtlinge das Land zu stark prägen. Nur 51 Prozent glauben, dass für die Integration der Flüchtlinge mehr getan werden muss. Welchen Anteil hat Angela Merkel? Der Kanzlerinnenbonus hat nicht so stark gezogen, wie von ihr erhofft – selbst wenn Angela Merkel es offenbar geschafft hat, Leistungen der großen Koalition wie den gesetzlichen Mindestlohn auch für sich zu verbuchen. So ist Merkel ein Teil der Stärke der CDU, aber auch ein Teil ihrer Schwäche. Ein Detail birgt besondere Brisanz: 51 Prozent aller Wähler meinen, dass zwölf Jahre Merkel genug seien – ein Signal, dass ihr Stern zu sinken beginnt. Befragt nach der Beliebtheit der Spitzenkandidaten liegt sie mit 64 Prozent zwar noch vorne. Doch die Abstände sind relativ gering: der Grüne Cem Özdemir (55) oder der Liberale Christian Lindner (50) folgen bald. Was hat die SPD falsch gemacht? Das Nachlassen des Hypes um Martin Schulz hat Gründe: Je 59 Prozent aller Wähler finden ihn nicht überzeugend und wissen nicht, wofür die SPD steht. 66 Prozent meinen, sie habe sich nicht ausreichend von der Union abgesetzt. Erwartbar ist der Kompetenzvorsprung der Union bei der Wirtschaftspolitik, in Terror- und Kriminalitätsbekämpfung. Bei der Altersversorgung wird die SPD als ein wenig kompetenter betrachtet, doch umgekehrt ist ihr Ansehensvorsprung bei sozialer Gerechtigkeit und Pflege nicht überzeugend. Folglich hat die SPD ein Problem mit der Außendarstellung: 80 Prozent der Befragten bemängeln, dass sie nicht genau sagt, was sie für soziale Gerechtigkeit tun will – und 74 Prozent vermissen ein Thema, mit dem die SPD die Menschen begeistern kann. Welche Koalitionen werden favorisiert? Am Wahlabend hat die SPD frustriert angekündigt, in die Opposition zu gehen – dann bliebe praktisch nur noch eine Bündnisoption. Unter den Wählern gibt es dazu eine klare Haltung: Laut der Forschungsgruppe Wahlen bevorzugen 50 Prozent der Deutschen eine Neuauflage der großen Koalition – 41 Prozent eine Allianz von Union, FDP und Grünen. Laut Infratest dimap wünschen 39 Prozent aller Befragten eine „Groko“ und nur 23 Prozent „Jamaika“.