Im Stuttgarter Palladium-Theater umspielt das Musical „Anastasia“ die Legende vom Überleben der letzten russischen Zarentochter. Das Stück ist ein bisschen kitschig, aber auch rasant, bunt und gut gemacht.

Stuttgart - Es soll ein Coup werden. Eine ganz große Sache. Die beiden Kleinkriminellen Dimitri und Wlad reiben sich die Hände. Im postrevolutionären St. Petersburg haben sie sich den „größten Schwindel aller Zeiten“ ausgedacht: Wenn es ihnen gelingt, der Zarenmutter im Pariser Exil eine Frau als Enkelin unterzujubeln, die das Massaker der Bolschewiken überlebte – welch unermesslicher Reichtum wird dann auf sie kommen! So stehen denn die Frauen beim Anastasia-Casting der Herren Schlange, lassen dafür sogar (Gelächter im Publikum!) „die Stoßzeit auf dem Strich sausen“ – und aus dem größten Schwindel, der auf der lange ziemlich lebendigen Legende vom Überleben einer Tochter der Romanows fußt, ist 1997 ein Zeichentrickfilm und 2012 ein Broadway-Musical geworden.

 

Lesen Sie hier – „Anastasia“-Premiere: Promi-Schaulaufen auf dem Roten Teppich

Am Donnerstagabend hat „Anastasia“ im Stuttgarter Palladium-Theater seine Deutschlandpremiere gefeiert: ein Stück wie eine Kristallschale voller Süßigkeiten der unterschiedlichsten Herkunft und Beschaffenheit. In ihr finden sich weiches Karamell, prickelnde Brausebonbons und feinste Trüffel ebenso wie übrig gebliebene, klebrige Lutschware vom vorvergangenen Faschingsumzug.

Die Musik bedient sich bei zahlreichen Stilen und Moden des frühen 20. Jahrhunderts

Für diese Vielfalt sorgt vor allem die Musik von Stephen Flaherty, die sich bei allem Möglichen bedient, was die beiden im Stück bereisten Länder – Russland und Frankreich – stilistisch bieten und die zudem musikalische Moden des frühen 20. Jahrhunderts aufgreift. Unter Boris Ritters Leitung spielt das Orchester Walzer, Cha-Cha-Cha, Rumba, Tango, Charleston, lässt Anklänge an russische Volksmusik einfließen, erinnert an die französische Musette, bietet überhaupt reichlich Dreivierteltaktiges, oft in einer Art Kurt-Weill-Sound, zeichnet höfisches Ambiente auch mal mit Flöte und Cembalo und zitiert zudem (bei der Aufführung des Balletts „Schwanensee“ kurz vor Schluss) reichlich Tschaikowsky – was dem hübschen, aber auch etwas konturlosen nostalgischen Musik-Potpourri immerhin einen entliehenen Ohrwurm beschert. Ansonsten gibt es schöne Sololieder, Duette, wirkungsvolle Ensembles.

Die werden gut gesungen. Judith Caspari als Anja, Mathias Edenborn als Gleb und Thorsten Tinney als Wlad müssen zwar – im Gegensatz zu Milan van Waardenburg (Dimitri), dem stärksten Sänger des Abends – ein bisschen drücken, damit die Höhe stimmt. Aber überzeugend sind sie alle, auch weil sie, angeführt von Daniela Ziegler als resoluter Zarenmutter („Ich muss mir meine Freundlichkeiten einteilen“) und Jacqueline Braun als wunderbarer Wuchtbrumme Lily, toll spielen. Und oft auch toll tanzen. Vor allem die Ensembles hat Denise Holland Behtke schön durchchoreografiert.

Das Bühnenbild ist ein Fest für die Augen

Dass die bewegten Szenen klasse wirken, hat allerdings auch mit dem zu tun, was hinter ihnen zu sehen ist. „Anastasia“ lebt maßgeblich von oft rasant wechselnden Landschafts- , Raum- und Stadtpanoramen, die auf LED-Wände mit derart brillanter Tiefenschärfe projiziert werden, dass man beim Betrachten geradezu in sie hinein schreitet. St. Petersburg, Paris, Mandelbäume, die Oper, ein Ballsaal, Fensterblicke aus der Eremitage, eine wahnwitzige Fahrstuhlfahrt auf die Aussichtsplattform des Eiffelturms und schließlich vor allem die bei der Reise der Protagonisten täuschend echt rechts und links eines Bahnwaggons vorüberhuschenden Bäume: Das ist grandios gemacht, ein Fest für die Augen.

Manches ist kaum zu glauben, und das gilt auch für die von Carline Brouwer inszenierte Geschichte selbst, die Tragik mit komischen Momenten mischt und mit glücklichen Zufällen wie mit hübschen Unwahrscheinlichkeiten nicht gerade sparsam umgeht. Das beginnt mit bettelarmen, hungernden aber stets gut gelaunten Revolutionären in St. Petersburg, setzt sich fort bei einem jungen Mann, dessen Vater (schluchz!) ein Anarchist war, „der für seine Überzeugungen im Arbeitslager starb, da war die Mutter schon tot“. Die wundersame Tatsache, dass dem Gaunerduo bei der Suche nach einer falschen Anastasia zufällig die richtige über den Weg läuft, die allerdings unter Gedächtnisverlust leidet, führt immerhin zu hübschen Verwirrungsmomenten im Wechselspiel von Schein und Sein. Und die Absurdität, dass eine Frau eine Frau spielt, die sie selbst ist, erinnert doch sehr an jene Opernszenen, in denen eine Frau einen Mann singt, der eine Frau spielt (siehe Mozart).

Komplexität in der Musical-Amüsierbude

Ein bisschen Fantasie und Toleranz darf man dem Publikum aber sogar dann zumuten, wenn es mit leicht erhöhtem Blutzucker in einer Musical-Amüsierbude sitzt. Ja, wer will, mag in alledem sogar einen Hauch jener völlig musical-unüblichen Komplexität entdecken, die auch einen sehr besonderen Charakter im Stück prägt: Gleb, Sohn eines Zarenmörders, ist zerrissen zwischen Alt und Neu, Funktionärsdenken und Menschlichkeit, also ein richtig interessanter Typ.

So reist das Musical „Anastasia“ mit einer rasant erzählten Geschichte, aber in qualitativem Schlingerkurs durch Zeiten, Stile, Klänge, Städte und wilde Gefühle, bis sich am Ende ein Mann und eine Frau finden, die sich – noch so eine hübsche Unwahrscheinlichkeit – eigentlich schon im Kinderalter ineinander verliebten. Und wenn die Gräfin schließlich erst den Bogen zurückschlägt zum Märchen und danach mit harter Stimme verkündet „Es hat Anastasia nie gegeben“: Dann, spätestens dann spürt und begreift man, dass die Gattung mit diesem Stück vielleicht doch keinen Schritt zurück ins nur zopfig-Dekorative getan hat. „Anastasia“ mag kein großes Werk sein; ein gutes ist es aber gewiss.