Reportage: Robin Szuttor (szu)

Der 200 Jahre alte Gall’sche Schädel, benannt nach dem Arzt Franz Joseph Gall (1758-1828), ist das Glanzstück in der Anatomischen Sammlung. Die einzelnen Kopfregionen sind beschriftet mit Charaktermerkmalen, die dort sitzen. So findet man die Anlage zum „Mördertum“ links auf Höhe der Schläfe, gleich bei der „Schlauheit“. Der Hang zur „Jungenliebe“ ist am Hinterkopf beheimatet, die „Bestechlichkeit“ vorne rechts. Hirt zeigt seine Schaukästen der Schöpfung: ein Uterus, eine Hufeisenniere, eine Harnblase gedehnt und getrocknet, eine filigran verästelte Hand – geschaffen durch Korrosionstechnik. Dabei lässt man pigmentierte Plastiklösung in die Blutgefäße fließen und aushärten. Danach wird das Gewebe drum herum mit Hilfe von Enzymen zersetzt. Übrig bleibt ein Kunstwerk von faszinierender Ästhetik.

 

Der Anatom muss ein Detektiv sein, sagt Hirt. Sein Beobachtungsobjekt ist der menschliche Körper mit seinem schier unerschöpflichen Variantenreichtum, dem Zusammenspiel komplexester Systeme – „ein unfassbar schönes Regelwerk, brillant aufgebaut und doch immer wieder ganz unterschiedlich“. Hirt holt einen Schädel aus der Vitrine. Früher wurden darin Gedanken gewälzt, Gefühle generiert. Jetzt ist er nur noch Hardware. „Schauen Sie, das ist der äußere Gehörgang, der Jochbogen, der Warzenfortsatz. Und in dieser kleinen Rille laufen gleich fünf Hirnnerven, eine sehr sensible Stelle bei Operationen.“ Wie ein Bindfaden, der da nicht hingehört, spannt sich die Chorda tympani, ein Ast des Gesichtsnervs, durch die Paukenhöhle, überquert das Trommelfell, zieht an den Gehörknöchelchen vorbei und schließt sich am Außenschädel dem Zungennerv an.

Anatomen rauchen gern

„Oder sehen Sie dieses Muskelchen?“ Der Musculus stapedius, kaum ein Zentimeter groß, schützt das Innenohr vor zu großer Lautstärke. Steigt der Schallpegel über 75 Dezibel, spannt sich das Muskelchen an und strafft so den Steigbügel, der dann nicht mehr so gut schwingen kann.

„Und hier die Gehörschnecke, dieses Wunderwerk.“ Ihre Haarsinneszellen dienen als eine Art Mikrofonkabel zum Gehirn. Sie werden im Fötus angelegt, halten ein Leben lang plus zwei Minuten. „Die Härchen reagieren bereits auf Bewegungsschwankungen von einem Angström – dem Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Das ist, als würde sich die Eiffelturmspitze um wenige Zentimeter zur Seite neigen und dadurch das Pariser U-Bahn-System steuern.“

„Unser Präparationskurs ist die intensivste Veranstaltung im ganzen Studium“, sagt Hirt. Jeder Medizinstudent muss ihn absolvieren. Und keinen lässt er unberührt, auch jene nicht, die dabei eine auffallende Abgeklärtheit an den Tag legen. Erfahrungsgemäß geschieht recht bald, was Hirt „die Verwandlung“ nennt. Der Moment, wenn die professionelle Neugier über die Befremdung siegt und der Körper vor einem zum bloßen Studienobjekt wird. „Ein Arzt muss diese Distanz haben“, sagt Hirt. Der 40-Jährige arbeitet nebenbei als Oberarzt in der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung der Universitätsklinik. Ab und zu will er auch mal mit einem Patienten reden.

In den USA und Großbritannien ist die Anatomie ein Auslaufmodell. Auch in Deutschland sieht Hirt das Fach in Gefahr. „Aber Ärzte brauchen die Anatomie, echte Kenntnis vom menschlichen Körper hat noch keiner durch E-Learning oder Faktenpauken im Atlas gewonnen.“ Zudem sei die Konfrontation mit dem Tod, mit der Materie Mensch, bereichernd. Eine Dosis Demut als Startkapital in die Medizinerkarriere.

Hirt: „Der Anatom muss ein Detektiv sein“

Vor vier Jahren hat Bernhard Hirt die Sectio chirurgica ins Leben gerufen. Erfahrene Chirurgen zeigen an gespendeten Körpern Operationen aus ihrem Fachgebiet – Luftröhrenschnitte, Nierentransplantationen, Prostataentfernungen. Die Eingriffe werden passwortgeschützt via Internet live in Hörsäle, Wohnheime und WG-Küchen übertragen. 13 000 Medizinstudenten haben inzwischen einen Online-Schlüssel für den Tübinger Präparationssaal. Sie können verfolgen, wie die Könner das Skalpell führen und zugleich beschreiben, was sie da so machen, was die Kamera gerade zeigt, was man beachten sollte – „an einem lebenden Menschen müsste man jetzt sehr schnell arbeiten“. Jeder zehnte Medizinstudent in Deutschland war schon bei einem Live-Mitschnitt dabei.

Die Tübinger Anatomie hat den modernsten Präparationssaal in Europa: zehn Plätze, an jedem ein OP-Turm mit Apparaten für sämtliche medizinische Zweige. Dazu ein Regiearbeitsplatz mit Studiotechnik, um Bilder in HD-Qualität innerhalb des Hauses oder über Videokonferenzen nach Saudi-Arabien, Argentinien, Brasilien, Italien zu übertragen. 1500 Chirurgen aus der ganzen Welt besuchen jedes Jahr Fortbildungskurse in Tübingen. Drei Tage Hüftprothesen, eine Woche Kniescheiben. Auch für Experimente mit neuartigen Werkzeugen oder OP-Methoden wird der Saal genutzt, den Medizintechnikfirmen mitfinanziert haben. „Das heißt aber nicht, dass wir die Ausbildung kommerzialisieren“, sagt Hirt, alle Einnahmen fließen in Lehre und Forschung an unserem Institut.“

Die Anlage zum „Mördertum“ liegt links

Der 200 Jahre alte Gall’sche Schädel, benannt nach dem Arzt Franz Joseph Gall (1758-1828), ist das Glanzstück in der Anatomischen Sammlung. Die einzelnen Kopfregionen sind beschriftet mit Charaktermerkmalen, die dort sitzen. So findet man die Anlage zum „Mördertum“ links auf Höhe der Schläfe, gleich bei der „Schlauheit“. Der Hang zur „Jungenliebe“ ist am Hinterkopf beheimatet, die „Bestechlichkeit“ vorne rechts. Hirt zeigt seine Schaukästen der Schöpfung: ein Uterus, eine Hufeisenniere, eine Harnblase gedehnt und getrocknet, eine filigran verästelte Hand – geschaffen durch Korrosionstechnik. Dabei lässt man pigmentierte Plastiklösung in die Blutgefäße fließen und aushärten. Danach wird das Gewebe drum herum mit Hilfe von Enzymen zersetzt. Übrig bleibt ein Kunstwerk von faszinierender Ästhetik.

Der Anatom muss ein Detektiv sein, sagt Hirt. Sein Beobachtungsobjekt ist der menschliche Körper mit seinem schier unerschöpflichen Variantenreichtum, dem Zusammenspiel komplexester Systeme – „ein unfassbar schönes Regelwerk, brillant aufgebaut und doch immer wieder ganz unterschiedlich“. Hirt holt einen Schädel aus der Vitrine. Früher wurden darin Gedanken gewälzt, Gefühle generiert. Jetzt ist er nur noch Hardware. „Schauen Sie, das ist der äußere Gehörgang, der Jochbogen, der Warzenfortsatz. Und in dieser kleinen Rille laufen gleich fünf Hirnnerven, eine sehr sensible Stelle bei Operationen.“ Wie ein Bindfaden, der da nicht hingehört, spannt sich die Chorda tympani, ein Ast des Gesichtsnervs, durch die Paukenhöhle, überquert das Trommelfell, zieht an den Gehörknöchelchen vorbei und schließt sich am Außenschädel dem Zungennerv an.

Anatomen rauchen gern

„Oder sehen Sie dieses Muskelchen?“ Der Musculus stapedius, kaum ein Zentimeter groß, schützt das Innenohr vor zu großer Lautstärke. Steigt der Schallpegel über 75 Dezibel, spannt sich das Muskelchen an und strafft so den Steigbügel, der dann nicht mehr so gut schwingen kann.

„Und hier die Gehörschnecke, dieses Wunderwerk.“ Ihre Haarsinneszellen dienen als eine Art Mikrofonkabel zum Gehirn. Sie werden im Fötus angelegt, halten ein Leben lang plus zwei Minuten. „Die Härchen reagieren bereits auf Bewegungsschwankungen von einem Angström – dem Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Das ist, als würde sich die Eiffelturmspitze um wenige Zentimeter zur Seite neigen und dadurch das Pariser U-Bahn-System steuern.“

Anatomen rauchen gern. Davon zeugt der Kippenberg am Eingang des Instituts. Ein italienischer Chirurg telefoniert gestenreich mit Zuhause. Daneben führt sein britischer Kollege in grasgrünem Schurwollpulli und bestem Oxfordenglisch eine Fachkonversation via Handy. Die beiden haben Mittagspause. Im Foyer gibt es Brezeln und süße Stückchen, nach dem Snack geht es zurück an den Präparationstisch. Eine Koryphäe zeigt, wie man die Öffnung zu den Nasennebenhöhlen erweitert, ohne zu schneiden. Eine neue Technik. Die Ärzte strecken ihre Hälse. Am anderen Ende des Saals probieren ein Neurochirurg und ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Mailand einen gemeinsamen Eingriff aus, den sie an einem lebenden Patienten vorhaben: eine Schädeldeckenoperation durch die Nase.

Und so wechseln die Spenderkörper immer wieder zwischen Seziersaal und dem Formalin-Sprühnebel in ihrem Schubfach. Nach zwei Jahren sind sie medizinisch so umfassend verwertet, dass sie zur Ruhe kommen können. Am Ende eines Präparationskurses haben die Studenten in Kleingruppen 120 Stunden an „ihrem Körper“, wie sie den Spenderleib meist nennen, gearbeitet. Die Kosten für die Feuerbestattung und die Beisetzung in einem Urnengrab auf dem Bergfriedhof trägt die Universität, einschließlich 20 Jahre Grabpflege.

Von der Seele keine Spur im modernen Präparationssaal

Am Semesterende gibt es eine Feier in der Stiftskirche. Die Pfarrer verleihen den Segen, Studenten lesen die Namen der Spender vor, singen im Chor, zünden für jeden eine Kerze an. Und während dieser Zeremonie geschieht eine erneute Verwandlung. Der Namenlose bekommt seine Identität zurück. Aus dem Lehrobjekt wird wieder ein Mensch, der eine Lebensgeschichte hatte. Der anderen wichtig war. Für Angehörige ist die Feier oft die erste Möglichkeit, richtig Abschied zu nehmen. Denn nach dem Tod eines Körperspenders herrscht immer Zeitdruck, er muss binnen 24 Stunden beim Präparator sein.

Hirt hat sich noch nicht dazu durchringen können, für sich selbst einen Körperspenderausweis zu beantragen. Er arbeitet noch an sich. „Die Präparation würde ja hier im eigenen Institut stattfinden. Und ehrlich gesagt, das wäre mir fast zu privat.“

Was ist der Mensch? Was fehlt, wenn der Körper erst einmal auf Bernhard Hirts Edelstahltisch liegt? Wo hinterließ die Seele ihren Abdruck? Dieser entsprungene Affe, der auf einem Lehmhaufen kauernd durch Gottes unbekannte Unendlichkeit saust – wie der Dichter Musil schrieb.

Der Seele ist Hirt bei seiner Detektivarbeit im modernsten Präparationssaal Europas nicht auf die Spur gekommen. „Am Bett eines todkranken Patienten bin ich diesem Element nahe, aus Sicht eines Anatomen ist es schwer zu benennen“, sagt Hirt. „Da geht es nur um das Stoffliche.“