Der Schlagerexperte Rainer Moritz präsentiert am Freitag in Fellbach sein Buch „Ein Lied kann eine Brücke sein“. Im Gespräch äußert er sich über Hits und Schlager aus dem Südwesten, über Andrea Bergs Outfit, Wolle Kriwaneks Lieder und über „Schaffe, schaffe, Häusle baue“.

Mancher kennt sich in hochgeistiger Literatur gut aus, andere eher mit der Reimkunst im deutschen Schlager. Rainer Moritz kann beides: Der aus Heilbronn stammende promovierte Literaturwissenschaftler ist Leiter des Hamburger Literaturhauses, Übersetzer des französischen Autors Georges Simenon – und beschäftigt sich in seinem Lieblingshobby neben dem Fußball (Ex-Schiedsrichter!) auch mit dem deutschen Schlager. Sein neuestes Buch behandelt die größten Hits aus dem deutschen Südwesten. Titel: „Ein Lied kann eine Brücke sein“ – wie der Erfolgssong der Mannheimerin Joy Fleming. Aus dem Rems-Murr-Kreis und speziell aus dem Raum Backnang erhalten eigene Sangeskünstler Beachtung: Andrea Berg, Vanessa Mai, Wolle Kriwanek. Vor seiner Lesung am Freitag im Fellbacher Kunstvereinskeller stellt er sich im Interview unseren Fragen.

 

Herr Moritz, der Südwesten als Schlagerland – das hätte ich eher als Gegensatzpaar vermutet. Aber Sie beweisen, dass es in Baden und Württemberg doch besonderes Sangesgut gibt – also mehr als Andrea Berg und Tony Marshall?

Es war auch für mich eine spannende Aufgabe, mich in das Thema zu vertiefen. Das Kriterium war ganz klar: Entweder die Person ist dort geboren, hat dort lange gelebt oder eine Verbindung zu der Region. Insofern habe ich ein bisschen gegraben und einige Entdeckungen gemacht, 40 sind’s für meine subjektive Hitparade dann geworden, das hätte ich am Anfang gar nicht gedacht.

Sie sind großzügig und haben auch Ausflüge in den Pop auf ihrer Liste, etwa mit „Die da“ oder „Major Tom“ – der landet bei Ihnen weit vorne auf Platz 3.

„Major Tom" ist insofern ein interessanter Fall: Peter Schilling oder auch Hubert Kah, der’s auf Platz 7 geschafft hat, das waren zwei der großen Vertreter der Neuen Deutschen Welle, und die sind damals Anfang der 1980er Jahre dem Schlager ja schwer an den Kragen gegangen mit ihren ironischen Liedern. Das war sozusagen der erste große Niedergang des deutschen Schlagers. Sie müssen sich mal eine alte Folge der ZDF-Hitparade auf Youtube anschauen, als Dieter Thomas Heck gezwungen war, Stephan Remmler anzusagen, weil der gewonnen hat. Da sehen Sie den Ekel im Gesicht von Heck, dass es jetzt solche furchtbaren Lieder geschafft haben. Aber Heck war konsequent, er ist 1984 dann ausgestiegen aus der ZDF-Hitparade – er meinte, das sei nicht mehr seine Musik, nicht mehr der klassische Schlager der 60er und 70er Jahre.

Platz 11, Pe Werners „Kribbeln im Bauch“, ist in Stuttgart entstanden, das wusste ich gar nicht.

Sie schildert das in einem Interview sehr genau, wie sie in ihrer ärmlichen Feuerbacher Wohnung auf dem dunkelbraunen Veloursteppich sitzend das Lied im Sechsachteltakt schreibt, es ist ja immer noch ein Klassiker.

Der Titel „Kribbeln im Bauch“ erinnert Sie an die Szene mit Spucke und Brausepulver im Nabel von Katharina Thalbach in der Verfilmung von Grass’ „Blechtrommel“.

Ja, das ist eine der berühmtesten Szenen im Roman, und die Ahoj-Brause von Frigeo ist ja auch ein baden-württembergisches Produkt, deshalb passt das wunderbar.

An Andrea Berg kommen Sie natürlich nicht vorbei, oder?

Sie ist ein Phänomen. Ihre Best-of-CD hat sich so lange wie keine andere CD in den Top 100 gehalten, länger als Pink Floyd oder die Beatles. Insofern muss man Andrea Berg nicht lieben, aber respektieren, wenn es um den Schlager nach den 80er Jahren geht, also die 90er und Nuller-Jahre, als manche Veteranen der Zunft sich später mit Baumarkteröffnungen begnügen mussten.

Andrea Berg beim „Heimspiel“ am 19. Juli 2024 im Stadion Großaspach Foto: Gottfried Stoppel

Waren Sie denn schon einmal bei dem Heimspiel im Großaspacher Stadion, das liegt ja nicht so weit von ihrer Heimat Heilbronn entfernt?

Nein, nein, nein. Ich versuche immer, den Künstlern nicht zu nahe zu treten. Bei Andrea Berg hatte ich bei ihrem Auftritt hier in der Barclay-Arena einen Auftrag vom Hamburger Abendblatt für eine Konzertbesprechung, 10 000 Leute waren da – das war eine besonders schöne Aufgabe, wenn man die entfesselten Drogeriefachverkäuferinnen vor einem sieht, die Wunderkerzen schwenken und das 2001er Lied „Du hast mich tausendmal belogen“ inbrünstig singen.

Allerdings kommen Bergs Sangeskünste und Outfits bei Ihnen ja nicht ganz so gut weg.

Stimmt, ihre fragile Stimme hat nichts Herausragendes, allenfalls Unverwechselbares an sich. Ihr Repertoire an körperlichen Ausdrucksformen ist limitiert und besteht aus immer gleichen Handbewegungen und Bühnensprints. Aber sie ist ein Phänomen, sie hat sehr früh auf die „emanzipierte Frau“ gesetzt, hat also Texte gesungen, die in den 60er und 70er Jahren undenkbar gewesen wären. Und dieses Outfit, ich habe das mal so beschrieben: In diesem Outfit hätte Nana Mouskouri nicht mal die Hochzeitsnacht verbracht. Hohe Stiefel, kurzer Rock und straffe Korsage sind seit jeher die Berg’schen Kennzeichen. Damals in Hamburg in der zweiten Hälfte war es, wo sie – sozusagen ,im leicht nuttigen Outfit’ – über die Bühne stürmte, wie ich es auch im Buch beschreibe.

Damit machen Sie sich bei Andrea-Berg-Fans aber keine Freunde.

Ach, da muss man durch. Kleine Randnotiz: Wir haben eine sehr gute Lektorin im Verlag, die hat eine Randbemerkung geschrieben, ob ich an dem Adjektiv „nuttig“ festhalten wolle. Ich habe ihr dann geschrieben: Ja, ich möchte daran festhalten.

Und ihre Schwippschwiegertochter Vanessa Mai, ob man sich an die in 20 Jahren noch erinnert, das stellen Sie ein wenig in Frage.

Das sind diese ganzen Instant-Künstler, die man heutzutage hat, die über die sozialen Medien vor allem ihre Karriere machen. Aber das ist eine ganz andere Sorte von Schlagersängern. Was mich ein bisschen traurig macht, ist – das gilt auch für Helene Fischer, die leider in diesem Buch nicht vorkommen darf –, dass das alles zwar moderner arrangiert ist als früher, aber textlich ist es das unterstes Schlagerniveau der 70er und 80er Jahre. Auch bei Helene Fischer, die könnte mehr, traut sich aber einfach nicht und ist eben auch erfolgreich auf dieser Schiene. Und für Vanessa Mai gilt das natürlich auch, „Ich sterb für dich“, das sind alles Metaphern, die man schon 120 Mal gehört hat.

Wolle Kriwanek mit seiner Stroßaboh auf Platz 19, der ist schon ein Favourite von Ihnen?

Klar, das ist kein klassischer Schlager. Aber er hat auch für die Mundart unglaublich viel getan. Als er anfing, wurde er ja verlacht, dass jetzt einer auf Schwäbisch über die Badewanne oder über die Straßenbahn singt, aber das sind einfach großartige Texte. Er ist ja leider sehr früh gestorben, aber es freut mich immens, dass beim VfB im Stadion immer noch die Hymne „Stuttgart kommt“ von ihm gespielt wird.

Ralf Bendix haben Sie mit Platz 16 bedacht, aber welche Wurzeln hat der denn im Südwesten?

Sie haben Recht, er hieß zwar Karl Heinz Schwab, doch ansonsten gibt es keinen schwäbischen oder badischen Bezug. Aber Ralf Bendix verdankt das Schwabenland ein Lied, das zu dessen heimlicher Nationalhymne wurde und die schwäbischen Sekundärtugenden Fleiß, Sparsamkeit und Umtriebigkeit gültig zusammenfasst: „Schaffe, schaffe, Häusle baue.“ Text und Musik stammen von Wolfgang Neukirchner, der war Richter in Nordrhein-Westfalen und hat abends seine Schlagertexte geschrieben – veröffentlicht unter seinem Pseudonym Josua Röckelein. Darunter auch Paul Kuhns „Es gibt kein Bier auf Hawaii“. Und eben das schwäbische Bausparerlied. Das ist ja mittlerweile ein Volkshymne, viele wissen gar nicht, dass das eigentlich ein Schlager ist.

Ihre Topfavoritin ist Joy Fleming – eine zeitlebens unter Wert eingestufte Sängerin, oder?

Ja, sie hat mir ihren Liedern nicht das ganz große Glück gehabt. Sie ist in Mannheim mit ihrem Neckarbrücken-Blues natürlich Kult. „Ein Lied kann eine Brücke sein“ ist insofern interessant, denn sie war 1975 beim Grand Prix damit und hat wahnsinnig schlecht abgeschnitten. Sie hatte ein furchtbares Kleid an, das hat sie hinterher zerschnitten, weil sie damit nie wieder auftreten wollte, und sie war zudem furchtbar frisiert. Das ist aber ein sehr schönes Beispiel, wie ein Lied quasi seiner Zeit voraus war. Es ist, wenn Sie mit Grand-Prix-Fanatikern sprechen, eine absolute Kult-Hymne der deuschen ESC-Fans geworden – aber das kam eben erst Jahre später. Deshalb gab es bei mir nie Zweifel, dass das auf Platz 1 landen muss.


Sie waren ja schon mehrfach in Fellbach, offenkundig nur mit guten Erinnerungen?

Ich mag diese wunderbare Atmosphäre im Keller des Kunstvereins, lese gar nicht so viel, sondern erzähle eher drumherum und habe wie immer den USB-Stick dabei, um einige Lieder anzuspielen – um den Menschen ein paar Ohrwürmer mitzugeben, die ihnen hoffentlich noch tagelang Freude bereiten.

Was bleibt? Schöne Grüße an das Schallarchiv?

Stimmt, das bringe ich öfter, allerdings wissen selbst die jüngeren Radioleute gar nicht mehr, was der Spruch eigentlich soll: Schallarchiv – dabei ist das Wort wirklich großartig.

Rainer Moritz

Rainer Moritz
Geboren am 28. April 1958 in Heilbronn, studiert Rainer Moritz in Tübingen Germanistik, Philosophie und Romanistik. Später arbeitet er bei diversen Verlagen, seit 2005 leitet er das Literaturhaus Hamburg.

Südwest-Schlager
Sein aktuelles Buch „Ein Lied kann eine Brücke sein“ stellt er auf Einladung der Buchhandlung Lack an diesem Freitag, 28. Februar, um 19.30 Uhr im Keller des Kunstvereins Fellbach, Cannstatter Straße 9, vor.