Erneut arbeitet „Tannöd“-Autorin Andrea Maria Schenkel einen Kriminalfall aus dem Jahr 1922 auf. Großartig erzählt sie von guten Kleinbürgern, die kein Gericht brauchen, um zu einem Urteil zu kommen.

Stuttgart - Ja, grausig geklungen hat das schon, was man da aus der oberen Wohnung gehört hat, als ob etwas über den Boden geschleift würde. Im Nachhinein, als in der Zeitung steht, dass in der Landshuter Neustadt ein Doppelmord geschehen ist, sind alle schlau und haben immer schon was geahnt. Dieses Nachhinein aber ist in Andrea Maria Schenkels Roman „Täuscher“ überall.

 

Erneut erzählt die Autorin, wie schon 2006 in ihrem sensationell erfolgreichen Debüt „Tannöd“, mit gebrochener Chronologie aus dem Jahr 1922. Die Opfer sind tot und lebendig wild durcheinander, sprechen und handeln für sich und werden zugleich von anderen definiert, ohne verbliebene Widerspruchsmöglichkeit. Das Hin- und Herspringen in „Täuscher“ gilt nicht nur der Verrätselung und Spannungserhöhung, es ist die passende Form für eines der zentralen Themen: für den Widerspruch vom gelebten Leben und dessen Wahrnehmung durch die anderen.

Zungen wie Nähmaschinennadeln

Die 77-jährige, bettlägerige Stadtkämmererswitwe Elsa Ganslmeier (solche Titulierungen sind wichtig in der hierarchiefixierten Provinzwelt der 20er Jahre) und deren 32-jährige Tochter Clara (die gilt bereits als spätes Mädchen, als Problemfall, als eine, die das rechtzeitige Heiraten verpasst hat) sind allem Augenschein nach Opfer eines Raubmordes geworden. In Verdacht und Haft geraten sehr schnell Claras Verlobter, der fürs Geschäftsleben nicht gemachte Bürstenfabrikantensohn Hubert Täuscher, und dessen Kneipenkumpel, der Kleinganove Luck Schinder.

Die Zungen in der Stadt laufen wie die Nähmaschinennadeln, den beiden wird der Mord passend auf den Leib genäht, noch bevor die Polizei die Spuren komplett ausgewertet hat. Die Staatsanwaltschaft erklärt die Ermittlungen viel zu früh für abgeschlossen. Was gut passt, soll man nicht unpassend machen.

Das Kino ist an allem schuld

Dies ist der fünfte Roman der 1962 geborenen Autorin, und wie „Tannöd“, „Kalteis“ und zuletzt „Finsterau“ basiert er auf einem historischen Kriminalfall, dessen Akten und Dokumente Schenkel aufarbeitet. Kurioserweise geschah der Landshuter Doppelmord (in der Realität hieß der Tatverdächtige Ludwig Eitele) gerade mal einen Tag vor dem Verbrechen in Hinterkaifeck, das als Grundlage für „Tannöd“ diente. Der Ton des Debüts und des neuen Romans sind sehr unterschiedlich. Aber Schenkel entwickelt diesmal eine Tragikomödie. Sie macht auch durch die leichte Dialektfärbung fast putzige Seiten an Fall und Milieus deutlich.

Alles beginnt damit, dass einer der Polizisten und seine Frau einige Zeit vor dem Verbrechen und nach einem Kinobesuch über das Gesehene sprechen. „Ja, das war so echt“, jammert die Gattin. „Glaubst Du, der hat die Gräfin wirklich umgebracht?“ Dieses kleinbürgerliche Verwirren von Fiktion und Realität wird noch wichtig werden im Buch: die Mörder der Ganslmeiers scheinen tatsächlich ein paar Dinge so gemacht zu haben wie ein Mörder im Film. Die Tatverdächtigen waren im Kino, der verderbliche Einfluss der Lichtspiele ist wieder mal bewiesen. Und ganz Landshut schaut sich nun diesen Krimi an, um das Abscheuliche frisch aufgewühlt abscheulich finden zu können.

Obrigkeit und Nachbarschaft pfeifen aufs Recht

Schenkel zeigt das Alberne und Banale, das Skurrile und das Kleingeistige am normalen Landshuter Bürgerleben und an der Aufregung nach dem Mord. Die ersten Hinweisgeberinnen würde der Kriminaloberwachtmeister Huther am liebsten wieder aus dem Büro werfen, so sehr gehen sie ihm mit ihrem bigotten Getratsche auf die Nerven. Schenkel führt uns an die Grenze des Volkstheaterhaften, an die Schwelle des „Königlich Bayerischen Amtsgerichts“, wie eine einst sehr beliebte deutsche TV-Serie hieß.

Das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, die „Täuscher“ zu Schenkels bestem Buch seit „Tannöd“ macht. Denn die Miniaturen, die sie liefert, die Kurzschlüsse von Obrigkeit und Nachbarschaft, die Allianz von ungeduldigem, autoritärem Schuldzuweisungsbedürfnis und gehässigem, skandalgeilem Geschwätz entwickeln sich vom leicht eklig Komischen zum durch und durch Bedrohlichen.

Ab vors Volksgericht

Bisher ist in Kritiken viel Aufhebens davon gemacht worden, dass gegen Täuscher und Schinder ein forscher Prozess vor einem der unsäglichen Volksgerichte geführt wird: Schenkel, wird interpretiert, zeige hier schon einen Schatten des Nationalsozialismus, der in die 20er Jahre fällt.

Das ist nicht falsch. Man darf es nur nicht so deuten, als zwinge hier die Obrigkeit der Gesellschaft eine rechtswidrige Aburteilungsmaschine auf.Schenkel zeigt, wie sehr das Volksgericht dem Wollen und Hassen der guten Bürger entspricht, wie konsequent es den Geist dieses muckerischen Landshut vertritt.

Schuldig bei Verdacht

Nach heutigen Maßstäben betrachtet, hat der historische Gerichtsprozess die Schuld des Ludwig Eitele (also von Täuschers realem Vorbild) nicht erwiesen. Schenkel entwirft nun aber keine pathetische Anklage des Justizmordes an einem ganz und gar Unschuldigen. In ihrem einerseits sachlichen, andererseits von dunklem Humor durchzogenen Stil konstruiert sie eine Geschichte, in der Täuscher durchaus in den Doppelmord verwickelt ist, die lückenhafte und voreingenommene Untersuchung und Prozessführung aber trotzdem zu einem unhaltbaren Ergebnis führen.

Schenkel wagt die differenziertere Sicht, dass man auch einem Schuldigen Unrecht tun kann – womit sie im Kontrast den erschreckendsten Zug dieses Landshuts/Deutschlands/Anstandsvolks hervorhebt. Irgendeiner Sache schuldig zu sein, einer Abweichung von der Norm in Sachen Liebschaft und Treue, heißt hier, theoretisch alles nur Vorstellbaren schuldig zu sein: wenn einer eine bestimmte Linie überschritten hat, dann passt jede Strafe und Sanktion. Denn im Grunde wird nicht die Einzeltat, sondern das Anderssein gefürchtet und geahndet – erst recht in Zeiten der Verunsicherung durch eine Wirtschaftskrise .

Andrea Maria Schenkels „Täuscher“ ist gerade einmal 238 Seiten lang: Schlank auch im Stil, wuchtig an Gehalt, differenziert in der Betrachtung, ganz aufs Beschreiben konzentriert und die Wertungen den Lesern überlassend: 1a Kriminalliteratur also, falls jemand vom Anfang des Textes gleich hierher gehüpft sein sollte und ein Fazit braucht.

Andrea Maria Schenkel: „Täuscher“. Roman. Hoffmann & Campe, Hamburg 2013. 238 Seiten, 18,99 Euro. Auch als E-Book, 14,99 Euro, und als Hörbuch, 18,99 Euro. Es gibt eine Leseprobe und eine Hörprobe.