Die Union beeindruckte sie bei den Sondierungen mit ihrer Verhandlungsstärke – nun stellen auch immer mehr Sozialdemokraten fest, dass Andrea Nahles zur heimlichen Parteichefin aufgestiegen ist. Aber ist ihre Zeit schon reif?

Berlin - Einträchtig sitzen sie an diesem Montag nebeneinander im Bundestag und lauschen aus der ersten Reihe den Reden zum 55-jährigen Jubiläum des Élyséevertrages. Die SPD-Fraktionsführerin Andrea Nahles schenkt ihrem Parteivorsitzenden Martin Schulz ein Lächeln, als sie nach ihrem Wortbeitrag zu ihrem Platz zurückkehrt. Da scheint es keine öffentlich erkennbare Abneigung oder Missgunst zwischen den beiden zu geben, und doch haben sich die Kräfteverhältnisse in ihrer politischen Beziehung verschoben – zugunsten der Rheinland-Pfälzerin Nahles.

 

Offenkundig geworden ist das beim Parteitag am Sonntag, der mit einem denkbar knappen Ergebnis den Weg für Koalitionsverhandlungen mit der Union geebnet hat. Parteichef Schulz erntete für sein Pro-Groko-Plädoyer eher höflichen Applaus, weil er, wie am Tag danach in SPD-Kreisen eingeräumt wird, „nicht seinen stärksten Moment hatte und keine echte Verbindung zu den Delegierten herstellen konnte“. Stimmung erzeugte vor allem das „NoGroKo“-Lager rund um den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert – bis Nahles ans Pult trat. Mit einer emotional vorgetragenen Verteidigungsrede für die Sondierungsergebnisse, dem Versprechen, im SPD-Sinne nachzuverhandeln, „bis es quietscht“, und Breitseiten gegen „den blöden Dobrindt“ von der CSU machte sie am meisten Alarm zugunsten einer Koalition. Niemand kann sagen, ob es ohne Nahles’ Rede auch zu einem Ja gereicht hätte – zumindest aber glauben manche in der Parteispitze, dass „sie wie schon in den Sondierungsgesprächen die Kastanien aus dem Feuer geholt hat“.

„Sie ist im Moment die stärkste Person in der SPD“

Nicht nur der politische Gegner hat Andrea Nahles, die in den Verhandlungen mit CDU und CSU der entscheidenden Sechserrunde der Partei- und Fraktionschefs angehört, zur heimlichen SPD-Chefin gekürt. Die ehemalige Bundesarbeitsministerin, so heißt es in der Union, sei bei den Sachthemen sattelfest und in der Sache hart gewesen – während Schulz vor allem die Rolle zugefallen sei, gelegentlich die Stimmung aufzulockern. Schon in der vorangegangenen großen Koalition galt Nahles bei Bundeskanzlerin Angela Merkel als Lieblingssozialdemokratin im Kabinett. Nun sehen die Christdemokraten die 47-Jährige als „neues Kraftzentrum“ beim möglicherweise auch künftigen Koalitionspartner an. Führende Sozialdemokraten mögen da nicht aus vollem Herzen widersprechen. „Nahles ist im Moment die stärkste Person in der SPD“, heißt es da, und in gewisser Weise auch die „Hauptarchitektin“ der großen Koalition.

Das liegt natürlich auch am angeschlagenen Schulz. Dessen Parteitags-Performance reiht sich aus Sicht seiner Genossen ein in eine Abfolge unglücklicher Auftritte. Genannt wird da vor allem die Pressekonferenz unmittelbar nach Ende der 24-stündigen Sondierungsgespräche, als der SPD-Chef die Ergebnisse „hervorragend“ nannte, es im Willy-Brandt-Haus aber der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und CSU-Boss Horst Seehofer überließ, die sozialen Errungenschaften der vielleicht nächsten Regierung zu verkünden. Das kommt noch hinzu zum Unmut darüber, dass nach der Wahl erst Opposition gepredigt, die Parteispitze dann vom Jamaika-Aus überrumpelt und schließlich doch in Richtung großer Koalition verhandelt worden ist.

Nahles hat mehr Stallgeruch als Schulz

Die politische Kehrtwende, die Schulz viele verübeln, hat auch Nahles vollzogen. Sie erntet im Gegensatz zum Parteivorsitzenden aber Respekt für ihren Einsatz und ihren Mut, im entscheidenden Moment ohne Rücksicht auf Verluste in die Vollen gegangen zu sein. Da mögen ihre Auftritte manchen zu burschikos oder hemdsärmelig sein – Nahles setzte schon beim vorangegangen Parteitag im Dezember bleibende Akzente, Stichwort: „Bätschi“.

Die Fraktionschefin ist schon als 18-jährige Gymnasiastin in die SPD eingetreten, war in den neunziger Jahren Bundesvorsitzende der Jusos und in Gerhard Schröders Kanzlerjahren Kritikerin von dessen Agendapolitik. Der 62-jährige Schulz mag schon 15 Jahre früher in die SPD eingetreten sein – weil er so lange in Brüssel war, verfügt er dennoch über weniger sozialdemokratischen Stallgeruch als die in alle Richtungen bestens verdrahtete Andrea Nahles.

Gute Chancen, an die oberste Parteispitze zu rücken

Eine Wachablösung steht, wie aus Parteikreisen zu hören ist, jedoch derzeit nicht an. Zumindest wird darauf verwiesen, dass Schulz nach dem 100-Prozent-Votum vom vergangenen Frühjahr im Dezember mit „ehrlichen 81,9 Prozent“ nun erst einmal „für die nächsten zwei Jahre gesetzt“ sei. Und im Übrigen sei der Posten des Fraktionsvorsitzes traditionell ein starker in der SPD, mit dem sich mögliche Vizekanzler der Partei so oder so arrangieren müssten.

Ein so vergleichsweise friedliches SPD-Zukunftsszenario mag angesichts der hitzigen innerparteilichen Debatte Wunschdenken sein. Andrea Nahles jedenfalls hat gute Karten, an die oberste Parteispitze zu rücken, falls es doch eher zu erneuten Turbulenzen kommen sollte.