Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Deshalb ist der Satz „Volkswagen ist am Haken“ auch eine Mitteilung an das Prozessgegenüber. „Nach menschlichem Ermessen gewinnen wir die VW-Klage“, sagt er in der direkten Art, für die er bekannt ist. Bei VW habe er ein paar gute Unterlagen. Soll heißen: Papiere, die belegen, wann die Konzernspitze wusste, dass die Software ihrer Dieselmotoren manipuliert wurde. Es mischt sich jedoch etwas Wehmut in die Siegesgewissheit. In den USA deute alles auf einen Deal mit den um Schadenersatz klagenden Verbrauchern hin. „Das rieche ich förmlich“, sagt Tilp. Kommt es so, dann bleiben sämtliche Akten und Beweise unter Verschluss. Keine der 20 beteiligten Rechtsanwaltskanzleien wird es nach einer solchen außergerichtlichen Einigung wagen, unter der Hand Papiere herauszugeben. Das zuständige Gericht habe unmissverständlich deutlich gemacht, dass im Fall einer Zuwiderhandlung 30 Jahre Haft drohen. Das macht die Wahrheitsfindung in Deutschland schwieriger.

 

Aber Tilp hat schon einmal das schier Unmögliche geschafft. Da war er nach seinem Zivildienst in der Kardiologie und in der Kinderkrebsstation der Uniklinik Tübingen, nach dem Abschied vom Gedanken, katholische Theologie zu studieren, noch ein unbekannter Jurastudent. Wenn auch einer, der mit Onkel und Vater seine ganze Jugend hindurch das Schach- und Pokerspielen perfektioniert hatte. Er hatte in seinem Ferienjob bei Daimler 10 000 Mark verdient, im Pokerspiel mit einem griechischen Kollegen gewonnen, im Systemlotto aber 500 Mark im Monat verloren. Eine Anlageberaterin der Volksbank in Ebersbach rät ihm zu Calloptionen auf die Commerzbank. Aus 10 000 werden 130 000 Mark.

400000 Mark Schulden trägt er während des Studiums ab

Der Volksbankdirektor lädt ihm zum Gespräch. Andreas Tilp, der Sohn des obersten Sozialdemokraten am Ort, ist plötzlich wer. Er ist 23 Jahre alt und denkt darüber nach, Broker zu werden, kauft Optionen für die Deutsche Bank, lässt ordern, was das Zeug hält, bekommt schließlich Optionsscheine im Wert von einer Million – und ist mit 400 000 Mark in der Kreide. „Da wird’s dann schon ein bisschen existenziell“, sagt er rückblickend.

Plötzlich weiß er, warum er Jura studiert. Die folgenden Jahre werden zu einer Aufsatzschlacht in den Fachzeitschriften, zum Schlagabtausch mit den Koryphäen des Wertpapierrechts, bevor es dieses Recht überhaupt richtig gab. Tilp veröffentlicht bereits als Student in Publikationen, in denen sonst nur gestandene Anwälte publizieren. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm schon damals nicht. Er gewinnt schließlich. Die 50 000 Mark Schulden, die ihm bleiben, trägt er brav während seines Studiums ab. Aber von nun an macht er sich auf Fehlersuche im Geldanlagesystem.

Die Rechtssprechung hinkt den Produkten hinterher

„Eine Ethik“, ist er überzeugt, „gibt es in dieser Branche nicht.“ Hin und wieder gelingt ihm ein Etappensieg – zum Beispiel mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, das auf seine Initiative zurückgeht. Ist ein Fall einmal exemplarisch vor Gericht durchgefochten, können sich auch andere Kläger auf das Urteil berufen. „Wir setzen Duftmarken“ ordnet er die Tatsache ein, dass er als Experte gehört wird, wenn es um Gesetzesänderungen gehe. Dennoch sieht Tilp sein Tun manchmal wie das Spiel vom Hasen und dem Igel, Geldprodukte entstammen einer hochkreativen Branche lautet seine Überzeugung. Vom Produkt bis zur Welle der Gesetzgebung dauere es sieben Jahre und dann weitere sieben Jahre bis zur höchstrichterlichen Rechtssprechung. Kein Wunder, dass sich der Macher manchmal auch als Getriebener fühlt.

Er selbst kommt aus einem Elternhaus, „in dem es kein Geld gab“. Der Vater SPD-Mitglied und Bahnbeamter, der Großvater „ein Proletarier“, der Sohn und Enkel ist entgegen anders lautender Vermutung kein Sozialromantiker und auch kein Robin Hood, ein „FDP- und Grünen-Wechselwähler“ – so viel gibt er preis. Außerdem sei er Unternehmer, sagt er, um die Unterstellung, womöglich ein Gutmensch zu sein, im Keim zu ersticken. Aber immerhin so viel gibt er zu: „Mein Herz schlägt zu 51 Prozent gegen die Anbieter von Finanzdienstleistungen.“ Angebote, die Seiten zu wechseln, hat er bisher immer abgelehnt.

„Ich wäre ohne meinen Schwiegervater nicht der, der ich heute bin“, sagt er. Der Metzger und Gastwirt war ein Macher. Sein Schwiegersohn ist es auch. Den Umgang mit Menschen hat er in der Wirtschaft des Schwiegervaters in Ebersbach an der Fils, seinem Geburtsort, gelernt. Vom Morgenalkoholiker bis zum Bürgermeister sind dort die unterschiedlichsten Menschen ein- und ausgegangen – Andreas Tilp immer mittendrin. Das war eine Schule des Lebens. Dort hat er gelernt, wie man mit den Leuten spricht. „In komplizierten Fällen des Kapitalmarktrechts müssen Sie investigativ unterwegs sein und gute Kontakte haben“, sagt er. Whistleblower sind in seinen Augen keine Verräter, sondern Menschen, „die dem Recht zur Geltung verhelfen“. Sich selbst bezeichnet er als „Organ der Rechtspflege“. Manche lachen über diese Selbstverortung. Tilp hat es gerne einfach und deutlich.

Tilp vertritt 278 VW-Anleger

Im Moment jongliert er wieder mit ziemlich viel Geld. Aktuell beläuft sich der Streitwert aller Klagen, die er vertritt, auf grob übeschlagen 15 Milliarden. 278 Anlieger davon sind Kläger gegen VW, allein der Schaden für sie beläuft sich auf 3,2 Milliarden Euro. Da bekommen Durchschnittsverdiener weiche Knie. Tilp hingegen geht das mit spielerischer Leichtigkeit und Kampfgeist an. Und das nicht nur, weil er, wie er mehrmals sagt, ein Sonntagskind sei, sondern weil er nach 22 Jahren im Job die Tricks der Konzerne und Banken kennt und seinerseits über beste Verbindungen verfügt. „Die Auseinandersetzung mit dem Gegner ist für mich immer wieder aufs Neue eine spielerische Herausforderung“, sagt er. Dass der VW-Abgasskandal publik werden würde, wusste er bereits vor der Zeit durch den Porsche-Prozess, wo er vor dem Braunschweiger Landgericht Anleger vertrat, und durch seine Verbindungen in US-Anwaltskanzleien. „Wir waren vorbereitet“, sagt er. Nur der Zeitpunkt kam für ihn dann doch überraschend. Dass die VW-Konzernleitung die Vorwürfe so schnell einräumen würde, bescherte Tilp eine Sonntagsschicht. „Weil unsere Pressemitteilung raus musste, habe ich sie am Sonntagabend eben selbst geschrieben“, sagt er. An einen handverlesenen Verteiler.

Er weiß, wie die Öffentlichkeit tickt und wann man was lancieren muss. Das hat schon 1994 geklappt. Da bestätigte der Bundesgerichtshof bei Termingeschäften seine Sicht der Dinge. Damit war er nicht nur in eigener Sache am Ziel. Damit begann auch Tilps Erfolgsgeschichte. Damals reagierte auf seine Pressemitteilung nur Bolko Hoffmann, der Herausgeber des Effektenspiegels. Aber das reichte, um Tilps Bekanntheitsgrad in der Finanzbranche in die Höhe schnellen zu lassen.

„Nach menschlichem Ermessen gewinnen wir“

Deshalb ist der Satz „Volkswagen ist am Haken“ auch eine Mitteilung an das Prozessgegenüber. „Nach menschlichem Ermessen gewinnen wir die VW-Klage“, sagt er in der direkten Art, für die er bekannt ist. Bei VW habe er ein paar gute Unterlagen. Soll heißen: Papiere, die belegen, wann die Konzernspitze wusste, dass die Software ihrer Dieselmotoren manipuliert wurde. Es mischt sich jedoch etwas Wehmut in die Siegesgewissheit. In den USA deute alles auf einen Deal mit den um Schadenersatz klagenden Verbrauchern hin. „Das rieche ich förmlich“, sagt Tilp. Kommt es so, dann bleiben sämtliche Akten und Beweise unter Verschluss. Keine der 20 beteiligten Rechtsanwaltskanzleien wird es nach einer solchen außergerichtlichen Einigung wagen, unter der Hand Papiere herauszugeben. Das zuständige Gericht habe unmissverständlich deutlich gemacht, dass im Fall einer Zuwiderhandlung 30 Jahre Haft drohen. Das macht die Wahrheitsfindung in Deutschland schwieriger.

Aber Tilp hat schon einmal das schier Unmögliche geschafft. Da war er nach seinem Zivildienst in der Kardiologie und in der Kinderkrebsstation der Uniklinik Tübingen, nach dem Abschied vom Gedanken, katholische Theologie zu studieren, noch ein unbekannter Jurastudent. Wenn auch einer, der mit Onkel und Vater seine ganze Jugend hindurch das Schach- und Pokerspielen perfektioniert hatte. Er hatte in seinem Ferienjob bei Daimler 10 000 Mark verdient, im Pokerspiel mit einem griechischen Kollegen gewonnen, im Systemlotto aber 500 Mark im Monat verloren. Eine Anlageberaterin der Volksbank in Ebersbach rät ihm zu Calloptionen auf die Commerzbank. Aus 10 000 werden 130 000 Mark.

400000 Mark Schulden trägt er während des Studiums ab

Der Volksbankdirektor lädt ihm zum Gespräch. Andreas Tilp, der Sohn des obersten Sozialdemokraten am Ort, ist plötzlich wer. Er ist 23 Jahre alt und denkt darüber nach, Broker zu werden, kauft Optionen für die Deutsche Bank, lässt ordern, was das Zeug hält, bekommt schließlich Optionsscheine im Wert von einer Million – und ist mit 400 000 Mark in der Kreide. „Da wird’s dann schon ein bisschen existenziell“, sagt er rückblickend.

Plötzlich weiß er, warum er Jura studiert. Die folgenden Jahre werden zu einer Aufsatzschlacht in den Fachzeitschriften, zum Schlagabtausch mit den Koryphäen des Wertpapierrechts, bevor es dieses Recht überhaupt richtig gab. Tilp veröffentlicht bereits als Student in Publikationen, in denen sonst nur gestandene Anwälte publizieren. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm schon damals nicht. Er gewinnt schließlich. Die 50 000 Mark Schulden, die ihm bleiben, trägt er brav während seines Studiums ab. Aber von nun an macht er sich auf Fehlersuche im Geldanlagesystem.

Die Rechtssprechung hinkt den Produkten hinterher

„Eine Ethik“, ist er überzeugt, „gibt es in dieser Branche nicht.“ Hin und wieder gelingt ihm ein Etappensieg – zum Beispiel mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, das auf seine Initiative zurückgeht. Ist ein Fall einmal exemplarisch vor Gericht durchgefochten, können sich auch andere Kläger auf das Urteil berufen. „Wir setzen Duftmarken“ ordnet er die Tatsache ein, dass er als Experte gehört wird, wenn es um Gesetzesänderungen gehe. Dennoch sieht Tilp sein Tun manchmal wie das Spiel vom Hasen und dem Igel, Geldprodukte entstammen einer hochkreativen Branche lautet seine Überzeugung. Vom Produkt bis zur Welle der Gesetzgebung dauere es sieben Jahre und dann weitere sieben Jahre bis zur höchstrichterlichen Rechtssprechung. Kein Wunder, dass sich der Macher manchmal auch als Getriebener fühlt.

„Noch macht es mir Spaß“, sagt er. Aber da ist das Wörtchen „noch“. Als im vergangenen Jahr innerhalb von sieben Tagen erst sein Vater und dann seine Mutter gestorben sind, fühlte er sich nach langer Zeit mal wieder richtig ohnmächtig. Wenige Monate später starb sein Onkel, von dem er das Schach- und Pokerspiel gelernt hat. Das war ein Einschnitt. Andreas Tilp wird nachdenklich. „Wenn die Party richtig schön ist, muss man gehen.“

Aber morgen ist erst mal morgen. Und dann sind da ja noch Volkswagen und Porsche. Der Spieler wird weitermachen.