Zehn Jahre nach dem Mord an Michèle Kiesewetter haben die Familien der NSU-Opfer der Toten gedacht. Pünktlich zum Jahrestag taucht eine neue Spur auf.

Heilbronn - Mit einem Empfang im Heilbronner Rathaus und einer Kranzniederlegung auf der Theresienwiese ist am Dienstag an die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter vor zehn Jahren erinnert worden. Zu der Gedenkfeier waren Angehörige aller zehn Opfer der rechtsextremen NSU-Terrorzelle nach Heilbronn gereist. Der Empfang im Rathaus fand auf Wunsch der Familie von Michèle Kiesewetter unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Neben den Familien waren Polizisten sowie Mitglieder der NSU-Untersuchungsausschüsse des Bundestags und des baden-württembergischen Landtags unter den Gästen. Vor dem Großen Ratssaal des Heilbronner Rathauses hingen die Fahnen auf halbmast.

 

Die 22-jährige Polizistin hatte am 25. April 2007 zusammen mit ihrem Kollegen Martin A. auf dem Park- und Festplatz Theresienwiese eine Pause gemacht. Dabei wurde sie mutmaßlich von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen; ihr Kollege Martin A. überlebte den Anschlag schwerst verletzt. Er arbeitet wieder bei der Polizei im Innendienst, nahm aber an der Gedenkveranstaltung nicht teil. Die Waffen der beiden Polizisten waren im November 2011 in dem Wohnmobil gefunden worden, in dem sich die zwei Terroristen das Leben genommen hatten.

Nach wie vor sind Fragen offen

Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl sprach einer Pressemitteilung der Stadt zufolge den Hinterbliebenen aller Opfer des NSU-Terrors sein Mitgefühl aus. „Sie können sicher sein, dass Sie mit Ihrer Trauer, Ihrem Schmerz und Ihrem Erinnern nicht alleine sind“, so Strobl, der selbst in Heilbronn lebt. Der Oberbürgermeister Harry Mergel (SPD) erinnerte daran, dass die Hintergründe für die Ermordung der 22-jährigen Michèle Kiesewetter und den Mordanschlag auf ihren Kollegen Martin A. noch immer ungeklärt sind. „Solange die Frage nach dem Warum nicht ausreichend beantwortet werden kann, gibt es auch hier in Heilbronn eine offene Wunde“, so Mergel.

Diese offenen Fragen dürften nicht „in einer Schublade der Geschichtsschreibung weggeschlossen werden“, sagte Eva-Maria Agster, die ehemalige Landespolizeipfarrerin wenig später am Tatort. Auf politischer Ebene müssten daraus Konsequenzen gezogen werden werden. Die Fragen dürften sich „aber nicht dauernd übergroß dazwischen drängen“ zwischen die Menschen, die Michèle Kiesewetter vermissen, und ihre Erinnerung. „Diese Fragen dürfen nicht die heilsamen Kräfte derjenigen zersetzen, die weiterleben müssen“, betonte Agster.

Man sei es den Toten und ihren Angehörigen schuldig, sich die Zeit zu nehmen für das Gedenken, sagte Minister Strobl am Rande der Veranstaltung. Ihn quäle es, „dass es mehr offene Fragen als Antworten gibt“. Es bestehe „kein Zweifel, dass es Ermittlungsfehler gegeben hat, auch solche, für die man sich schämen muss“, so Strobl – etwa die Fehleinschätzung, die die Ermittler so lange im persönlichen Umfeld der Ermordeten recherchieren ließ; ein rechtsextremer Hintergrund war bis zum Auffliegen der NSU-Terrorzelle gar nicht erst geprüft worden.

Ombudsfrau vermisst Entschuldigung

Die von der Bundesregierung beauftragte Ombudsfrau der Hinterbliebenen, Barbara John, kritisierte, es sei merkwürdig, „dass noch nicht ein Beamter der Strafvereitelung im Amt angeklagt worden sei“: Immerhin „hätte das alles verhindert werden können, wenn der Thüringer Verfassungsschutz anders gearbeitet hätte“. Sie verstehe auch nicht, warum sich die Ermittler bei den Angehörigen nie entschuldigt hätten dafür, dass die Mordopfer und deren Familien jahrelang selbst im Fokus der Polizei gewesen waren.

Untersuchungsausschuss geht Schriftzug nach

Die Recherchen gehen weiter. Der NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags will sich mit einem neuen Hinweis befassen, den der Südwestrundfunk in seinem alten Filmmaterial entdeckt hatte. Das kündigte Wolfgang Drexler (SPD), der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, am Dienstag an. Wie berichtet, war am Tatort ein gesprühter NSU-Schriftzug zu erkennen. Man werde das Filmmaterial anfordern und alte Polizeifotos sichten.

Es wäre das erste Mal gewesen, dass die Mörder sich am Tatort verewigt hätten. Allerdings ist noch gar nicht sicher, ob der Schriftzug nicht schon vor der Ermordung von Michèle Kiesewetter da war. Ausgeschlossen ist das nicht. NSU ist eine gängige Abkürzung für Heilbronns Nachbarstadt Neckarsulm, wo früher die NSU-Motorenwerke ihren Sitz hatten. Auch der Sportverein Neckarsulmer Sport-Union firmiert unter dem Kürzel.