Seit zwölf Jahren regiert Angela Merkel unsere Republik. Sie hat Deutschland auf ganz andere Weise verändert, als ursprünglich zu erwarten und von ihr versprochen war. Welche Spuren hinterlässt ihre Kanzlerschaft?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte gebot über eine sehr überschaubare Zahl von Untertanen. Genau genommen waren es nur zwei. Schließlich war sein Reich nur „ungefähr doppelt so groß wie unsere Wohnung“. Jim Knopf war da zuhause und Lukas der Lokomotivführer. Zudem gab es dort Gastarbeiter. Ein Herr namens Tur Tur diente jenem sonderbaren König aus der Bücherwelt von Michael Ende als lebender Leuchtturm. Herr Tur Tur dient auch immer wieder als Vergleichsmuster für unsere Kanzlerin. Er war nämlich ein Scheinriese.

 

Scheinriesen wirken nur aus der Ferne imposant. Sie erscheinen umso gewöhnlicher, je näher man ihnen kommt. Solche Eigenschaften sind bei Angela Merkel zu beobachten. Dem „Spiegel“ ist das aufgefallen, ebenso dem „Stern“. Zuletzt ist davon in einer „kritischen Bilanz“ der Regierungszeit Merkels zu lesen, die sich seit Monaten in den Bestsellerlisten hält: Das Buch versteht sich als „Dokument der Enttäuschung der konservativen und liberalen Kreise über ihre Kanzlerin“. Die machen ihren Frust an der „Linksverschiebung“ der CDU fest, die Merkel angelastet wird, am „Migrationschaos“, das sie angerichtet habe und an der Kluft zwischen ihrem anfänglichen Reformehrgeiz und der „Politik der kleinen Schritte“, die jenem folgte.

Merkel wirkt aus der Ferne imposant

Der Vergleich mit Herrn Tur Tur drängt sich aus mancherlei Gründen auf: Merkels vermeintliche Monumentalität hat auch mit der Statur der Leute zu tun, mit denen sie sich messen muss. Das beginnt in der eigenen Partei und endet im Weißen Haus. Die Widersacher kamen und gingen, Merkel blieb. Sie überstand die Finanzkrise, die Bankenkrise, die Eurokrise und letztlich auch die Flüchtlingskrise. Kein anderer demokratisch gewählter Regierungschef hat sich in diesen stürmischen Zeiten so lange im Amt gehalten. Und dennoch erwiesen sich einige der Denkmäler, die Merkel schon errichtet wurden, als nicht besonders standhaft: Zur „Eisernen Lady“ passt die eigene Reformschwäche nicht, zur Klimakanzlerin die deutsche Klimabilanz. Und „Madame Europe“ hat Europa in Wahrheit gespalten: als Sparkommissarin wie als Madonna der Flüchtlinge. Gerade in dieser Rolle ist sie zuletzt sehr geschrumpft.

Die überschwänglichsten Attribute werden ihr aus einer Distanz zugeschrieben, aus der die Details ihres Wirkens kaum mehr wahrzunehmen sind. „Letzte Verteidigerin des liberalen Westens“ nannte sie die „New York Times“. Das Internetmagazin „Politico“ hält sie für einen „global savior“, einen Heiland mit weltumfassender Reichweite. Dabei ist ihre Überzeugungskraft schon unter europäischen Nachbarn ziemlich begrenzt. Merkel selbst ist der Kontrast zwischen Schein und Sein, Erwartungen und tatsächlichem Einfluss eher peinlich. Die Resultate ihrer Regierungskunst lesen sich jedenfalls bescheidener.