Ob Ukraine oder Flüchtlinge: In Europas großen Krisen spricht Merkel Machtworte. Winkt der Kanzlerin dafür der Friedensnobelpreis? Mit der Wahl von Regierungschefs hat die Jury schlechte Erfahrungen.

Oslo - Im Ukraine-Konflikt handelt die Bundeskanzlerin einen Waffenstillstand aus. Als die Flüchtlingssituation zu eskalieren droht, heißt Angela Merkel die Schutzsuchenden in Deutschland willkommen - und findet zugleich klare Worte. Für ihren Umgang mit den großen Krisen in Europa soll die CDU-Politikerin den Friedensnobelpreis bekommen, fordern Parteifreunde in Berlin. In Oslo, wo am Freitag (9. Oktober) das Geheimnis um den Preisträger 2015 gelüftet wird, wird Merkel auch als Kandidatin gehandelt. Bei den Buchmachern ist sie Top-Favoritin. Doch mit der Auszeichnung von Politikern hat die norwegische Nobel-Jury in der Vergangenheit nicht immer ein glückliches Händchen gehabt.

 

Rückblick: 1994 ehrt das Komitee Palästinenser-Führer Jassir Arafat und die israelischen Spitzenpolitiker Schimon Peres und Izchak Rabin für ihr Bemühen um ein Ende des Nahost-Konflikts. Über 20 Jahre später hat sich die Hoffnung auf Frieden zwischen Palästina und Israel immer noch nicht erfüllt. „Wir haben von mehreren Seiten Aufforderungen bekommen, den Preis zurückzunehmen“, schreibt der langjährige Direktor des norwegischen Nobelinstituts, Geir Lundestad, in seinem gerade erschienen Erinnerungsbuch.

US-Präsident Barack Obama erfuhr die Nobel-Ehren, als er 2009 gerade einmal neun Monate im Amt war. „Ein gigantischer Mediensturm brach in großen Teilen der Welt los“, erinnert sich Lundestad. „Viele Reaktionen waren negativ, sogar sehr negativ.“ Doch der Nobeldirektor meint über Obama: „Es war unmöglich für ihn, die enormen Erwartungen zu erfüllen, die nach der Wahl 2008 an ihn gestellt wurden.“

„Yes we can!“, hatte Obama damals ausgerufen, und die Amerikaner hoffnungsfroh gestimmt. „Wir schaffen das“, macht Merkel in der Flüchtlingskrise zu ihrem Mantra. Ansonsten aber hat ihre Nominierung nicht viel mit der des US-Präsidenten gemeinsam.

Im Komitee sitzen vor allem Ex-Politiker

„Auch wenn man in der Politik an einem Tag als Held und am anderen als absoluter Verlierer dastehen kann: Es ist schwer vorstellbar, dass Merkel nicht als eine deutsche Regierungschefin mit moralischer Integrität und Tatkraft in die Geschichtsbücher eingeht“, sagt der Osloer Friedensforscher Kristian Berg Harpviken. Für den Norweger ist Merkel die klare Favoritin auf den diesjährigen Preis.

Vorgeschlagen ist die CDU-Politikerin laut Berg Harpviken von Abgeordneten ihrer Partei aus Berlin - damals noch für ihre Vermittlung im Ukraine-Konflikt und nicht für den Umgang mit dem Flüchtlingsdrama. Doch gerade da habe Merkel Rückgrat gezeigt, meint Berg Harpviken: „In einer Situation, die für uns alle in Europa peinlich war, wo jeder die Schuld auf den anderen geschoben hat und niemand die wirklichen Probleme angehen wollte, hat sie genau das gemacht.“

Für Merkel spricht, dass die Osloer Jury zuletzt seltener vorbildliche Einzelkämpfer ausgezeichnet hat als Menschen, die politischen Einfluss ausüben konnten. Sowohl beim Preis an Obama als auch bei dem an die Europäische Union 2012 war sich die Jury, die heute noch in ähnlicher Besetzung entscheidet, einig, schreibt Lundestad. Im Komitee sitzen vor allem Ex-Politiker.

Gegen Merkel spricht wohl, dass die großen Probleme, derer sie sich annimmt, von einer Lösung noch weit entfernt scheinen. Die EU-Staaten fühlen sich von der massiven Zuwanderung zunehmend überfordert. Auch viele Deutsche sehen ihr Land an seinen Grenzen, für die Kanzlerin hagelt es Kritik auch aus den eigenen Reihen. Und die im Februar in der weißrussischen Hauptstadt Minsk vereinbarte Waffenruhe wird erst seit September wirklich weitgehend eingehalten.

Auch Obama habe nicht alle Erwartungen erfüllt. „Aber ich will festhalten, dass er die Welt trotzdem zu einem etwas besseren Ort zu leben gemacht hat“, schreibt Lundestad. Und was sagt Merkel jüngst beim Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen in New York? „Wir wollen und wir können unsere Welt verändern.“

Vielleicht glaubt die Jury auch daran. Die Zocker tun es inzwischen jedenfalls. Auf der Liste des Wettanbieters Ladbrokes liegt die Kanzlerin auf Platz eins - vor Kandidaten wie dem kongolesischen Arzt Denis Mukwege oder dem in der Schweiz lebenden eritreischen Priester Mussie Zerai, der Menschen hilft, die auf dem Mittelmeer in Not geraten. Andere wetten auf die russische Zeitung „Nowaja Gaseta“ oder Papst Franziskus. Auch US-Whistleblower Edward Snowden ist wieder nominiert. Harpviken aber meint: „Die Flüchtlingskrise ist zweifellos das große Thema in diesem Jahr.“ Der Norweger sieht auch Chancen für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das schon 1954 und 1981 ausgezeichnet wurde.

70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach der Wiedervereinigung könnte eine Preisvergabe an die Kanzlerin aber symbolhaft sein, meint Berg Harpviken. Für Deutschland, das gesundet sei und endlich stolz auf sich sein könne. „Es ist eine Fußnote in der Geschichte des Friedensnobelpreises, dass Helmut Kohl den Preis nie bekommen hat“, sagt er. „Wenn irgendein deutscher Regierungschef in jüngerer Zeit das aufwiegen könnte, dann wäre das Merkel.“