Angela Merkel hat die schwersten Jahre ihrer Amtszeit hinter sich, die sie nun auf Kohl-Maß verlängern will. Dafür inszeniert sich die Dauerkanzlerin als neugierig gebliebene Zukunftsgestalterin – und trifft auf viel Respekt, aber auch blanken Hass.

Berlin - Der Trick funktioniert immer. Immer wenn Angela Merkel dieser Wahlkampftage Bürgern Rede und Antwort steht, kommt der Moment, da unter Verweis auf den superengen Zeitplan der viel beschäftigten Kanzlerin die letzte Publikumsfrage aufgerufen wird. Genauso regelmäßig verkündet die Chefin zur Freude der Zuhörer, dass sie noch ein wenig Zeit erübrigen kann. Manchmal lässt sie weitere drei Fragen zu, gelegentlich vier – neulich, als die CDU die Nachbarn ihrer Berliner Parteizentrale eingeladen hat, sind es gar sieben gewesen. Danach haben die Menschen das gute Gefühl, dass Trump oder Putin ihretwegen warten müssen.

 

Es schmeichelt auch den Menschen in Bad Fallingbostel, dass die deutsche Weltkanzlerin für die niedersächsische Provinz einen Platz im Kalender gefunden hat. Es ist Mittwochabend dieser Woche, und Angela Merkel hat zwar „nicht viel von der schönen Heide gesehen“, aber erkannt, dass sie „mit dem Hubschrauber über Weser und Aller geflogen“ ist. Mitten hinein ins schwarze Loch – in Fallingbostel will ihre CDU mindestens 50 Prozent der Stimmen holen und erneut mithelfen, dass ihre Vorsitzende im Kanzleramt bleibt.

Selbst eingefleischte Fans können nicht behaupten, dass der Gast die Halle zum Beben bringt. Die Reden der Kanzlerin – es sind eher Referate zur Lage in Deutschland, Europa und der Welt, die sie leicht abgewandelt über die Republik verteilt hält – erzeugen keine emotionalen Ausbrüche, sondern ernten respektvollen Applaus. „Die Kanzlerin“, sagt ihr Verkehrsstaatssekretär Norbert Barthle, „kämpft mit dem feinsten Florett.“ Leicht erhöhte Temperatur lässt sich höchstens messen, wenn sie trotz nerviger Nachtsitzungen für die Europäische Union wirbt. Merkel betont, dass es besser ist, miteinander zu reden statt übereinander, weil sonst Vorurteile, Hass und Gewalt entstehen, vielleicht sogar Krieg. Ihr Lob des Ehrenamts, für sie der „Schatz unseres Landes“, der es wappnet „für die Stürme von außen“, kommt stets gut an. Hören ja genug freiwillige Feuerwehrleute und Vereinsmenschen zu.

Eine Gasse für den Selfie-Star

Das ist die eine Seite des Merkel-Wahlkampfs 2017, der ihr eine vierte Amtszeit bescheren soll, an deren Ende sie an Jahren mit Helmut Kohl, der sie einst „Mädchen“ nannte, gleichgezogen hätte. Ihr begegnet Anerkennung und Respekt. Sie ist ein Star, was sich heute daran bemisst, dass viele ein Selfie mit ihr wollen. Das passiert in Mainz, als sie auf den Marktplatz am Dom tritt, wo sie ebenfalls eine von gut 50 Großveranstaltungen vor der Wahl bestreitet. Am Tag der offenen Tür im Kanzleramt haben ein Dutzend Sicherheitsbeamte gar eine Gasse durch die Handymenge bahnen müssen. Vorbei an einem Mann mit einem T-Shirt im Orange der CDU und dem Spruch: „Ich wähle Merkel, weil die Weltpolitik dringend Östrogen braucht.“

Die andere, neue Erfahrung ist die totale Ablehnung, der blanke Hass, der sie an fast alle Auftrittsorte begleitet. Der Wahlkampf, der anders werden sollte als all ihre bisherigen – so Merkels eigene Prophezeiung Ende 2016 –, ist da. Fallingbostel, wo kein einziger gegen Deutschlands Dauerkanzlerin protestiert, bildet die Ausnahme. In Heidelberg sind Tomaten geflogen, in Mainz stimmten Merkel-Gegner den rechten Sommerhit 2017 an: „Hau ab, hau ab“. Einer der Männer erläutert, warum Merkel aus seiner Sicht die „Umvolkung“ Deutschlands eingeleitet hat mit ihrer Entscheidung, die Grenzen für aus Ungarn kommende Flüchtlinge nicht zu schließen. Mit nachziehenden Familien wird die Bundesrepublik nach dieser Logik zum islamischen Staat und ihre Kanzlerin zur Verbrecherin, angeklagt für einen „Ethnozid am deutschen Volk“, wie auf einem Plakat in Brandenburg an der Havel zu lesen ist. „Sperrt sie ein“, fordern die Schreihälse – ein Import aus USA, wo Donald Trumps Anhänger Gegenkandidatin Hillary Clinton ins Gefängnis wünschten. Auf allen ostdeutschen Stationen ihrer Wahlkampftour gehen Merkels Worte im Lärm der AfD-, NPD- oder Pegida-Trillerpfeifen unter – außer in ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern.

Sie hat sich dazu entschieden, die Attacken als Ausdruck der Meinungsfreiheit zu akzeptieren, aber zu ignorieren. Sie sieht keinen Anlass, ihre damalige Entscheidung im Detail zu rechtfertigen, sondern verspricht nur: „Das Jahr 2015 kann, darf und soll sich nicht wiederholen.“ Dazu gibt es ein dickes Dankeschön für die ehrenamtlichen Helfer, was stets besonders warmen Applaus hervorruft. Die Gröler spricht sie nie an, überzeugt, dass ein direktes Wort der Kanzlerin sie aufwerten würde. Also stärkt Angela Merkel jenen den Rücken, die trotz des schrillen Getöses zum Zuhören gekommen sind. Ihr Gesicht wirkt dann versteinert – aber sie zieht es durch. „Sie kann das gut ertragen“, heißt es in ihrem Umfeld, im Kanzleramt gehe die Arbeit wie gewohnt weiter. „Zeit- und kraftraubend“ gestaltet sich die Schlacht um die Wählergunst dennoch. Und ganz so tiefenentspannt und ruhig, wie die Marke Merkel erfolgreich nach außen verkauft wird, ist der Mensch dahinter so kurz vor dem Wahltag und angesichts steigender AfD-Werte auch wieder nicht, wie Vertraute berichten: „Sie ist schließlich kein Roboter.“

Fehler unterlaufen ihr keine

Schritt für Schritt, ihrer Arbeitsmethode folgend, legt die Kanzlerin auch ihren Wahlkampf an. TV-Duell, Bürgerfragestunden, Veranstaltungen draußen im Land – das nächste Spiel ist für Merkel immer das schwerste, darauf fokussiert sie sich. Jeden Tag kann ihr ein Fehler unterlaufen, ein Satz über die Lippen kommen, die der Gegner ausschlachten könnte – viel Honig hat er bisher daraus noch nicht saugen können. Sie legt sich nur auf wenige Dinge fest, die Angriffsfläche bieten könnten. Populäre Vorstöße der Konkurrenz gemeindet sie ein.

„Es ist ein wenig leichter, von vorne als von hinten anzugreifen“, sagen ihre Berater angesichts des anhaltend großen Vorsprungs in den Umfragen, obwohl die Werte zuletzt ein wenig bröckelten. Mit 37 Prozent wären sie bei der dritten Wiederwahl zufrieden – wo darunter die gefühlte Niederlage anfängt, sagen sie nicht. Klar ist ihnen jedenfalls, dass der Erfolgsfaktor Erfahrung leicht bei noch mehr Menschen in Überdruss umschlagen kann. Natürlich soll Merkel die erfahrene Steuerfrau in unruhiger See geben. Zusätzlich zur reinen Fehlervermeidungsstrategie soll sie aber ihre Zukunftsneugier betonen und – um im Bild zu bleiben – einen Zielhafen angeben.

In Fallingbostel meint die Kandidatin deshalb erklären zu müssen, dass sie mit ihrem Wahlkampfmotto nicht nur auf Halten spielt. „Ja, was denn sonst?“ fragt sie, nachdem sie wieder einmal geworben hat „für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“. Die Umbrüche, die das Leitmotiv gefährden könnten, beschreibt Merkel mit dem Smartphone, das heute bei vielen Familien mit am Esstisch sitzt und nicht nur deren Leben verändert. Die dieselnde Autoindustrie dient ihr als Beispiel dafür, „wie schnell Erfolge in Gefahr geraten können“. Sie verspricht den Bundesländern Geld, um die Lehrer und Schüler fit für die digitale Zukunft zu machen. Noch der letzte Einsiedlerhof soll an das schnelle Breitbandnetz angeschlossen werden, damit niemand im Analogzeitalter zurückgelassen wird. Das Versprechen ist schon älter, diesmal soll es aber wirklich eingelöst werden. „Breites Internet“, sagt die Kanzlerin, aber alle verstehen, was gemeint ist.

Die „Hase-und-Igel“-Kanzlerin

Die fast perfekt orchestrierte Vermischung von Wahlkampf und Amtsgeschäft kommt hinzu – obwohl jede Art von Abstimmung natürlich dementiert wird: Spätnachmittags und abends steht die Kanzlerin auf der Bühne, tagsüber wird regiert. Während ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz schimpft und fordert, kann sie handeln oder den Anschein erwecken. Kritik an der Flüchtlingspolitik? Merkel nimmt sich mit afrikanischen Staatschefs vor, die Mittelmeerroute dichtzumachen! Parteiübergreifende Empörung, weil der Dieselskandal immer mehr zum Himmel stinkt? Die Amtsbonusinhaberin lädt zu mehreren Abgasgipfeln ins Kanzleramt! Dass nur vereinbart wird, beim nächsten Gipfel nach der Wahl etwas zu vereinbaren, gerät zur Randnotiz. Das Hase-und-Igel-Spiel beherrscht die Kanzlerin: Wo die anderen auch hinwollen – Merkel ist schon da.

Auf den Marktplätzen sucht man die Machttaktikerin Merkel vergeblich. Demut lautet dort das Motto, vor dem Souverän, ihrem Arbeitgeber. „Im Kern geht es nicht um uns Politiker“, erzählt sie den Mainzern: „Sie entscheiden am 24. September, wie Sie die Entwicklung in Deutschland haben möchten und wie es in Ihrem Leben weitergeht.“ Soll nur ja keiner dem Vorwurf glauben, sie habe nach zwölf Jahren an der Macht die Bodenhaftung und den Bezug zu den Menschen vor Ort verloren!

So wie in einem Berliner Bistro wirkt es trotzdem immer noch ein wenig hölzern, wenn sich die Kanzlerin in den Bürgernahkampf stürzt. Sie hat gerade eine Runde in den umliegenden Geschäften absolviert, mit etwa zehn Kamerateams im Rücken ein Eis gekauft und in einem hippen Geschäft für Accessoires aus Stein versichert, einmal inkognito wiederzukommen. Nun also isst sie Falafel, der schon länger zu Deutschland gehört, und fragt: „Was ist das?“ „Falafel“, sagt Ladenbesitzer Taeb leicht irritiert. Isst die Kanzlerin etwa wirklich nur Kartoffelsuppe, die sie so gut kocht, was eins der wenigen bekannten Privatlebendetails ist? „Ich dachte, das wäre vielleicht eine bestimmte Untergruppe“, entgegnet Merkel, ganz Wissenschaftlerin, die sie einst war. Endgültig entspannen sich die Mienen der Umstehenden erst, als Merkel dem Falafel das Prädikat „lecker“ verleiht.

Das nennt man wohl Bürgernähe mit Anlaufschwierigkeiten. Aber am Ende mögen sie ihre Kanzlerin dann doch wieder.