Angela Merkel hat vor 1700 Lesern in der Stuttgarter Liederhalle über den Abgasskandal, schwierige Partner in der Flüchtlingskrise, ihre Vorhaben in den nächsten vier Jahren – und ihre größte Schwäche gesprochen.

Stuttgart - Angela Merkel hat schon einen langen Tag hinter sich, als sie am Dienstagabend die Stuttgarter Liederhalle betritt. Am frühen Morgen hat die Kanzlerin in Berlin an der letzten Sitzung des Bundestags vor der Wahl am 24. September teilgenommen, die länger ging als erwartet. Nach dem Mittagessen hat sie in ihrem Büro wegen der Nordkoreakrise mit Japans Premier Shinzo Abe telefoniert und ein Interview gegeben, ehe ein Regierungs-Airbus sie nach Heidelberg geflogen hat, wo sie kurz nach 17 Uhr eine Wahlkampfrede auf dem Universitätsplatz hielt. Danach stieg sie in einen Hubschrauber der Bundespolizei Richtung Landeshauptstadt. Dort betritt sie nun, Punkt 19.22 Uhr, acht Minuten vor der geplanten Zeit, den Saal. Ohne darum gebeten worden zu sein, erhebt sich das Publikum und applaudiert.

 

Das kraftraubende Programm einer wahlkämpfenden Regierungschefin ist ihr nicht anzumerken. Auch die Pfiffe vieler S21-Gegner auf dem Platz vor der Liederhalle, die „Merkel weg“ rufen, scheinen ihr nichts anzuhaben. Sie begrüßt die 1700 Zuschauer bei „StZ im Gespräch“ und amüsiert sich darüber, dass die Veranstaltung bei Twitter unter #merkelstuttgart zu verfolgen ist. Zur guten Laune trägt sicher bei, dass sie das TV-Duell, vor dem sie im Wahlkampf auch als langzeiterfahrene Politikerin den meisten Respekt hatte, ordentlich über die Bühne gebracht und – laut Umfragen – auch gewonnen hat. Sicher, bis zur Entscheidung sind es noch gut zwei Wochen, in denen viel schiefgehen kann, doch die Leser merken, dass Merkel ganz zufrieden mit sich ist.

Einer Blauen Plakette erteilt sie wieder eine Absage

Gleich zu Beginn konfrontieren die Chefredakteure Joachim Dorfs (Stuttgarter Zeitung) und Christoph Reisinger (Stuttgarter Nachrichten) die Kanzlerin mit dem Thema, in dessen Mittelpunkt Stuttgart steht. Merkel versichert, dass sie alles tun will, um die drohenden Fahrverbote zu verhindern, und appelliert an die Hersteller, die versprochenen Schadstoffreduzierungen auch umzusetzen: „Der Hauptteil muss von der Automobilindustrie kommen.“ Einer Blauen Plakette erteilt sie erneut eine Absage, da die in eine Stadt einfahrenden Autos gar nicht alle kontrolliert werden könnten: „Der Staat kann nur Dinge einführen, die er auch durchsetzen kann.“ Die Kanzlerin räumt aber auch ein, sie „habe noch nicht die Lösung“.

Angela Merkel wäre nicht Angela Merkel, wenn sie dabei nicht auf das große Ganze verweisen würde, nämlich die Frage, ob die deutschen Autobauer auch die Autos der Zukunft bauen werden: „Darum geht es.“ Als Beispiel aus dem Bereich der Digitalisierung führt sie an, dass Firmen in Asien und Amerika mehr über ihre deutschen Kunden wüssten als deutsche Unternehmen. Deutschland, so ihr Fazit, müsse also mehr tun, um seinen Wohlstand zu erhalten, habe aber „motivierte Menschen“, die das schaffen könnten. Als Reisinger nachhakt, ob Merkels Union mit dem Ausbau der Mütterrente dann nicht falsche Prioritäten setze, gefällt das der Kanzlerin weniger: „Das stimmt doch nicht, dass wir uns nur um die Mütterrente kümmern.“

Nicht alle Leser stellt Merkel zufrieden

Es folgen, im Versuch das zu beweisen und Zukunftsfähigkeit zu demonstrieren, mehrere Ankündigungen, was Merkel im Falle ihrer Wiederwahl in den nächsten vier Jahren erreichen will. Dazu gehört, alle Schulen an das Breitbandnetz anzuschließen, die digitale Verwaltung zu schaffen und die seit langem umstrittene Gesundheitskarte einzuführen.

Die Hoffnungen zweier Leser enttäuscht sie. Ein CDU-naher Unternehmer fragt Merkel, wann das Steuerrecht wirklich vereinfacht werde. „Einen Bierdeckel“, antwortet sie mit einer Anspielung auf den älteren Vorschlag des früheren Unionsfraktionschefs Friedrich Merz, „kann ich nicht in unmittelbare Aussicht stellen“. Auch ein Ende des sogenannten Kooperationsverbotes von Bund und Ländern in Bildungsfragen, das SPD-Kandidat Martin Schulz und eine Elternvertreterin im Saal fordern, damit überall in Deutschland gleiche Lernchancen geschaffen werden, unterstützt die Amtsinhaberin nicht. Nur so viel zur Bildungshoheit der Bundesländer: „Wo sie es alleine nicht schaffen, müssen Kooperationsmöglichkeiten gefunden werden.“

„Ich kann die Ruhe bewahren“

Auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrer so umstrittenen Entscheidung, aus Ungarn kommende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, ist die Migrationspolitik ebenfalls Thema bei „StZ im Gespräch“. Merkel berichtet, wie sie die Unterstützung für Afrika weiter erhöhen und Abkommen mit den Staaten dort schließen möchte. Die Kanzlerin gewährt dabei einen kleinen Einblick in ihre eigene, gespaltene Gedankenwelt. Das betrifft etwa den Umgang mit der Türkei, die einerseits Deutsche inhaftiert, aber auch wichtiger Partner in Sicherheitsfragen ist. Merkel weiß auch genau, dass die Zustände etwa in Libyen für eine weitere Kooperation „nicht ideal sind“, das Problem aber auch kein Nichtstun zulässt: „Wir können uns nicht wegducken.“

Persönlich wurde es zum Ende hin. Von einer Leserin nach ihrer größten Stärke und ihrer größten Schwäche gefragt, witzelt die CDU-Chefin zuerst, sie könne stundenlang über ihre Stärken reden. Dann benennt sie aber doch eine einzige, die sogleich den größten Applaus des Abends provoziert und am überübernächsten Sonntag vielleicht auch wahlentscheidend ist, nämlich dass „ich in entscheidenden Momenten die Ruhe bewahren kann“. Ihre Schwäche ist demnach, dass „ich mich ein bisschen verplaudere, wenn es abends spät ist“. So geht „StZ im Gespräch“ zehn Minuten später als geplant zu Ende.