Die Erinnerung an den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion vor 75 Jahren gerät im Bundestag zur Routine. Die Redner widmen sich mehr der Tagespolitik als den Opfern. Die Kanzlerin war abgetaucht, der Bundespräsident äußerte sich schriftlich.

Berlin - Wie sehr das deutsch-russische Verhältnis wegen der russischen Intervention in der Ukraine gestört ist und wie schwer es fällt, einen respektvollen, der wechselvollen gemeinsamen Geschichte angemessenen Umgang zu finden, zeigte sich im Gedenken der Bundesregierung an den 22. Juni 1941 – den Überfall der deutschen Wehrmacht auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Man musste schon aufmerksam sein, um regierungsamtliche Zeichen des Respekts, der Trauer und der Versöhnung zu finden. Unter Punkt vier der Tagesordnung war das Thema am späten Nachmittag in der Parlamentsroutine des Bundestages regelrecht versteckt, und selbst das wohl nur deshalb, weil die Linke auf einer am Ende gemeinsam vereinbarten Debatte bestand. Eine offizielle Gedenkveranstaltung des Bundestags war das nicht. Kein Blumenstrauß, keine musikalische Umrahmung, wie sonst bei ähnlichen Anlässen. Business as usual.

 

Bundespräsident und Bundesregierung, die vergleichbare Anlässe schon mal mit einer Einladung des betroffenen Staatspräsidenten oder symbolträchtige Auslandsreisen hochrangiger Kabinettsmitglieder würdigen, beschränkten sich auf das protokollarisch unbedingt Notwendige. Als sich 2015 das Kriegsende zum 70. Mal jährte, legte Kanzlerin Angela Merkel in Moskau immerhin noch einen Kranz nieder und Außenminister Frank-Walter Steinmeier hielt im ehemaligen Stalingrad, das heute Wolgograd heißt, eine Gedenkrede. Den aktuellen Gedenktag verbrachte Merkel überwiegend bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen, was ihr unabhängig von der ohnehin komplizierten Lage noch weniger Spielraum für versöhnliche Gesten gegenüber Moskau ließ. Denn Polen fürchtet den militärischen Aufmarsch Russlands an der Ostgrenze der Nato und äugt deshalb umso misstrauischer auf Steinmeier, der die Nato jüngst vor einem Säbelrasseln warnte.

Gauck meldet sich schriftlich

Bundespräsident Joachim Gauck, der aus politischen und auch aus ganz persönlichen Gründen ein Nicht-Verhältnis zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin pflegt, weilte in Rumänien und Bulgarien. Auf seiner Homepage ließ das Staatsoberhaupt schriftlich verbreiten, dass man „auf einen beispiellosen Vernichtungskrieg“ zurückblicke, „in dem mehr Opfer zu beklagen waren als an jeder anderen Front des Zweiten Weltkriegs.“ Kein Land habe „so große Opfer gebracht wie die Sowjetunion.“

Die Debatte im Bundestag geriet dann zu einer Auseinandersetzung über die aktuelle Tagespolitik und über Steinmeiers Warnung. „Das Ausmaß des Leidens ist in Worte kaum zu fassen“, begann Steinmeier zunächst als erster Redner. Dann widmete sich dann im Wesentlichen den aktuellen Fragen, bei denen auf der Suche nach Antworten Deutschland wegen eben dieser Vergangenheit eine besondere Verantwortung trage. Er rechtfertigte die Sanktionen gegen Russland und die bisherigen, von der Bundesregierung mit getragenen Nato-Entscheidungen. Das Gefühl der Bedrohung der östlichen Nato-Partner „nehmen wir sehr ernst“, so Steinmeier. Zugleich redete er einer Neuauflage der Entspannungspolitik das Wort. Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt zeigte sich daraufhin abermals irritiert davon, dass Steinmeier der Nato „Säbelrasseln“ zuletzt vorgeworfen hatte.

Gregor Gysi sagte im Namen der Linken, dass der Respekt vor den Toten nicht von tagespolitischen Erwägungen abhängen dürfe: „Diese Opfer verlangen einen würdigen Rahmen des Gedenkens“, so Gysi. Dieser würdige Rahmen sei den Angehörigen verwehrt geblieben. Er könne außerdem nicht verstehen, dass Gauck an so einem Tag zwar in Osteuropa unterwegs sein, dabei aber Russland außen vor lasse. Dann aber widmete auch er sich den aktuellen Scharmützeln, kritisierte scharf die Strategie der Nato, lobte Steinmeiers Mahnung, um ihm sogleich mangelnde Konsequenz vorzuhalten, weil Steinmeier bisher alle Nato-Bewegungen mit getragen habe.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters hatte am Tag zuvor eine Ausstellung über diesen Vernichtungskrieg eröffnet. Sie verband dies mit einem überraschend ehrlichen Eingeständnis: „Dieser Krieg hat bei uns – auch das gehört zur Wahrheit – aus vielerlei Gründen bis heute keinen angemessenen Platz im öffentlichen Bewusstsein.“