Einer der spektakulärsten Arzneimittelprozesse der vergangenen Jahrzehnte hat am Montag in Essen begonnen: Ein Apotheker aus Bottrop muss sich vor dem Landgericht verantworten, weil er Krebspräparate in großem Stil gestreckt haben soll.

Essen - Vor der Wirtschaftskammer des Landgerichts Essen hat am Montag der Prozess gegen den Bottroper Apotheker Peter S. begonnen. Laut Anklage der Staatsanwaltschaft soll er jahrelang Krebsmedikamente gepanscht haben. Potenziell betroffen sind laut Staatsanwaltschaft mehr als 4600 Patienten in sechs Bundesländern, deren Ärzte Chemotherapeutika von ihm bezogen haben. Die Infusionen enthielten laut Anklage jedoch nicht die angegebenen Wirkstoffmengen, sondern waren verdünnt oder enthielten nur Kochsalz.

 

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Pharmazeut von 2012 bis zu seiner Verhaftung im November 2016 fast 62 000 weitgehend wirkungslose, weil unterdosierte Chemotherapien hergestellt habe. Peter S. soll zudem Hygieneregeln und Dokumentationspflichten missachtet haben. Die Rechtsanwälte des Angeklagten bestreiten die Vorwürfe.

Wird der Fall vor dem richtigen Gericht verhandelt?

Fest steht: Der Fall des Pansch-Apothekers ist einer der größten Medizinskandale der vergangenen Jahrzehnte. Eine entscheidende Frage ist: Wird er vor dem richtigen Gericht verhandelt? Die Staatsanwaltschaft hat im Wesentlichen nur den mutmaßlichen Betrug an den Krankenkassen zur Anklage gebracht. Eine juristische Notlösung: Wenn der 47-Jährige über Jahre Medikamente abgerechnet hat, die weniger Wirkstoffe enthielten als verordnet, wäre das ein eindeutiges Wirtschaftsverbrechen. Die Staatsanwaltschaft beziffert den dabei entstandenen Gesamtschaden auf rund 56 Millionen Euro.

Weniger eindeutig sind die menschlichen Schicksale: Die betroffenen Patienten und die Angehörigen von verstorbenen Krebspatienten fordern, dass sich der Angeklagte auch dafür verantworten muss, dass er den Krebskranken möglicherweise lebensrettende Medikamente vorenthalten hat. Ein Vorwurf, der juristisch nur schwer zu belegen ist, denn das System, nach dem der Apotheker gepanscht hat, ist heute kaum noch nachzuvollziehen.„Wir haben es hier mit dem Verdacht eines Tötungsdelikts zu tun, nicht lediglich mit geldlichen Angelegenheiten“, sagte Hans Reinhard, Anwalt eines der Nebenkläger. Er fordert – wie andere Nebenklagevertreter auch –, dass der Fall vors Schwurgericht verlagert wird. „Der Beklagte hat billigend in Kauf genommen, dass Patienten vorzeitig versterben. Das erfüllt den Tatbestand des Totschlags.“ Da die Patienten unwissend waren, könne man von heimtückischer Handlungsweise sprechen. Das erfülle sogar den Tatbestand des Mords, sagt Reinhard.

Das Gericht machte die Bedingungen für eine Nebenklage deutlich

Der Vorsitzende Richter Johannes Hidding ließ bereits kurz vor dem Prozessbeginn Patienten und ihre Angehörigen zur Nebenklage zu. Beim Prozessauftakt machte das Gericht dann die Bedingungen für eine Nebenklage deutlich: Die Betroffenen müssen nachweislich Medikamente aus der Alten Apotheke in Bottrop bekommen haben und namentlich auf der Liste der betroffenen Patienten stehen, die den Ermittlern vorliegt.

Damit sieht es so aus, als ob das Schicksal der Patienten in dem Prozess doch eine Rolle spielen wird. Viele Familien von verstorbenen Patienten fragen sich, ob ihre Angehörigen noch leben könnten, wenn sie keine gepanschten Medikamente erhalten hätten. Sollen doch die Chemotherapeutika, von denen es je nach Krebsart etwa 100 verschiedene gibt, nicht nur bekämpfen, sondern vor allem auch einen Rückfall verhindern.

Unter den Nebenklägern ist die 65-jährige Bottroperin Annelie Scholz. Ihre Tochter Nicole verstarb im Dezember 2016 an Brustkrebs und hinterlässt eine achtjährige Tochter. Die Patientin hatte ihre Krebsmedikamente aus der Alten Apotheke in Bottrop bekommen. Als sie kurz vor ihrem Tod gehört habe, dass diese gepanscht sein könnten, sei ihr Lebensmut endgültig gebrochen, erzählt Scholz. Der letzte Wunsch von Nicole sei es gewesen, für Gerechtigkeit zu sorgen, sagt sie. Bisher sind 19 Betroffene als Nebenkläger zugelassen.

Staatsanwaltschaft hält nur wenige Nebenklagen für möglich

Anders als der Richter hielt die Staatsanwaltschaft nur wenige Nebenklagen für möglich. Weil Krebsinfusionen direkt nach der Herstellung ausgeliefert werden, konnten sich die Ermittler fast nur auf die Buchhaltung der Apotheke stützen. Welche Wirkstoffe in welchen Infusionen tatsächlich enthalten waren, lässt sich nicht mehr nachweisen.

Auch die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass ein tragischer Krankheitsverlauf oder das Ausbleiben von Nebenwirkungen im Einzelfall keine ausreichenden Hinweise seien, dass der betreffende Patient eine gestreckte Infusion erhalten hatte.

Dabei haben Ärzte und auch das Gesundheitsamt Düsseldorf, das sich zu Wort meldet, weil 900 Patientinnen durch ein Düsseldorfer Brustkrebszentrum mit Medikamenten aus Bottrop behandelt wurden, sehr wohl eine Möglichkeit aufgezeigt: mit einer sogenannten Fall-Kontroll-Studie. Hierbei werden die Krankheitsverläufe von Patienten, die aus Bottrop Medikamente bekamen, mit der Krankheitsgeschichte einer vergleichbaren Gruppe abgeglichen. Eine solche Studie könne Belege liefern, sagen Experten.

Mit der Stellungnahme des Gerichts ist die Bahn frei für weitere Betroffene, Nebenklage einzureichen. Eine Nebenklage kann bis zur Urteilsverkündung eingereicht werden. Für den Prozess beraumte die Essener Strafkammer bislang 13 weitere Verhandlungstage bis Mitte Januar an.