Ein Richter am Landgericht Stuttgart hat sich bei VW gründlich unbeliebt gemacht. Der Grund: seine Aufarbeitung der Dieselaffäre. Der Autokonzern lehnt ihn als befangen ab, doch die Entscheidung verzögert sich – auch aus einem kuriosen Grund.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - In mehr als zwanzig Jahren Prozesspraxis hat Thomas Liebscher „noch nie einen Befangenheitsantrag gegen einen Richter gestellt“. Ablehnungsgesuche seien bei komplexen Rechtsstreitigkeiten um Großunternehmen selten, weiß der Anwalt aus dem Mannheimer Büro der Kanzlei Schilling, Zutt & Anschütz. Alle Beteiligten hätten „ein ausgeprägtes Vertrauen in die deutsche Justiz“.

 

Doch als Vertreter von Volkswagen vor dem Landgericht Stuttgart, wo über Anlegerklagen wegen der Dieselaffäre verhandelt wird, sah er sich zu diesem Schritt „leider“ gezwungen. Anlass sei ein „beispielloser Fall einer unsachgemäßen Verfahrensführung“ durch den zuständigen Einzelrichter. Der lasse die gebotene Neutralität missen, habe sich vorschnell ein Urteil gebildet und versuche sich öffentlich auf Kosten von VW zu profilieren, lauten nur einige der massiven Vorwürfe.

Zweifel an der Version von Volkswagen

Fabian Richter Reuschle heißt der Richter am Landgericht, auf den sich der Zorn des sonst meist jovial auftretenden Rechtsanwalts richtet. Zugezogen hat ihn sich der promovierte Jurist mit einem Beschluss vom Dezember vorigen Jahres. Darin erbat er vom übergeordneten Oberlandesgericht eigentlich nur eine Entscheidung, welche Gerichte über Klagen von Anlegern verhandeln sollen, die sich durch eine verspätete Information über die Abgasmanipulationen geschädigt sehen. Doch Reuschle nutzte die formale Frage, um die Dieselaffäre umfassend inhaltlich aufzuarbeiten. Tief hat er sich in die komplexe Materie hineingefuchst, nächtelang Dokumente studiert und Schlüsse daraus gezogen. Seine vorläufige Sicht der Dinge, auf 90 Seiten im Bundesanzeiger für jedermann einsehbar veröffentlicht, war für VW nicht besonders erfreulich.

Schon Monate vor der US-Anklage gegen den früheren VW-Chef Martin Winterkorn zweifelte Reuschle an der bisherigen Version von Volkswagen. Nur nachrangige Mitarbeiter seien für die 2015 aufgeflogene Dieselaffäre verantwortlich, der Vorstand habe von nichts gewusst – das sah der Richter durch eine Information an Winterkorn widerlegt, in der bereits 2014 von einer Abschalteinrichtung und drohenden Konsequenzen die Rede war. VW habe sogar eingeräumt, dass er diese „zur Kenntnis genommen“ und zumindest angelesen habe. Schon damals hätte die interne Aufarbeitung einsetzen und eine Information an die Kapitalmärkte erfolgen müssen, befand Reuschle. Die Argumente der Kläger seien insgesamt schlüssig, die von VW weniger überzeugend.

Befangenheit wegen Schwester bei Bosch?

Die Anlegeranwalt Andreas Tilp zeigte sich hoch erfreut über die „Grundsatzentscheidung“; damit stiegen die Chancen auf Schadenersatz. Auch andernorts beriefen sich klagende Anleger prompt auf den Stuttgarter Beschluss. Selbst bei nicht Beteiligten fand dieser Beifall: Er sei „ein Lichtblick“ in der sonst eher düsteren juristischen Aufarbeitung der Abgasaffäre, lobte der Ex-Politiker und Wirtschaftsanwalt Rezzo Schlauch. Volkswagen dagegen sah sich öffentlich vorverurteilt und in seinen Rechten beschnitten. Andere Gerichte müssten sich nun rechtfertigen, wenn sie die Dinge anders als Reuschle sähen. Im Februar reagierte der Konzern mit dem Befangenheitsantrag.

Drei Monate sind seither verstrichen, doch entschieden ist darüber immer noch nicht. Ein Grund: die zuständige Kammervorsitzende hatte sich selbst als befangen angezeigt. Eine nahe Angehörige – offenbar eine Schwester – arbeite beim Bosch-Konzern, der als Lieferant der Motorsteuerung ebenfalls in die Abgasaffäre verstrickt ist. Wie schon VW will Richter Reuschle auch Bosch zur Herausgabe von brisanten Dokumenten zwingen, bisher noch ohne Erfolg. Inzwischen hat das Gericht eine Befangenheit der Vorsitzenden verneint, wie ein Sprecher bestätigte. Begründung: ihre Verwandte bekleide bei Bosch „keine Organstellung“.

Persönliche Vorwürfe gegen den Richter

Nun muss sich die Richterin also doch mit dem Antrag des VW-Anwalts befassen. Auf 36 Seiten lässt dieser seiner Empörung über Richter Reuschle freien Lauf. Getrieben sieht er ihn von „persönlichem Interesse“ an Fragen des sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, kurz KapMuG, und „dem Wunsch, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen“. Das Gesetz mit dem Bandwurmnamen, das Anlegern die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen erleichtern soll, ist Reuschle in der Tat wichtig: Als abgeordneter Referent im Bundesjustizministerium hat er vor Jahren den Entwurf formuliert. Er sei der „Vater des KapMuG“ schrieb die Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2017 in einem Porträt über ihn – und somit „in der seltenen Rolle, in einem spektakulären Fall als Richter ein Gesetz anwenden zu können, das er einst selbst geschrieben hat“. Den „äußerst wohlmeinenden Artikel“ hat Liebscher seinem Antrag beigefügt. Am Telefon will er von Reuschle gar den Satz gehört haben: „Sie sprechen mit dem Gesetzgeber.“ Doch eine solche Äußerung bestreitet der Richter in seiner 23-seitigen Erwiderung.

Entscheidung im Juni erwartet

Punkt für Punkt weist er darin die Vorwürfe von VW zurück. Er habe sich in der Sache bereits festgelegt, rechtliches Gehör verweigert oder eine Verfügung erst später nachgeschoben? In emotionsfreiem, sprödem Juristendeutsch widerspricht er den Vorwürfen. Auch von einer Kooperation mit der Klägerkanzlei könne keine Rede sein, genauso wenig habe er Gerichtsakten an einen Gutachter herausgegeben. Auf die persönlichen Anwürfe reagiert Reuschle nur kurz und kühl: Für das freundliche NJW-Porträt habe er keine Zitate freigegeben, es handele sich um die Wertung des Verfassers.

Bis zur Klärung seiner möglichen Befangenheit muss sich der Richter indes noch gedulden. Der zuständige Berichterstatter befinde sich „in einem lange vorher geplanten Urlaub“, erläutert der Gerichtssprecher. Nach derzeitigem Stand werde wohl Anfang Juni über den Ablehnungsantrag entschieden.