Anna Ingerfurth verwandelt Alltagsbeobachtungen in drohendes Unheil. Persönlich neigt die Malerin, die jetzt in Backnang ausstellt, aber nicht zur Schwarzseherei.

Stuttgart/Backnang - Man sollte ihnen nicht trauen, diesen Bildern. Auch wenn die Räume noch so sauber, die Farben noch so pastellbunt sind. Problembereinigte 50er-Jahre-Idyllen entwirft Anna Ingerfurths Malerei nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist die dekorativ gemusterte Welt der Stuttgarterin vollgespickt mit faustdicken Finten. Labyrinthe, klaustrophobische Kammern und gefährliche Glatteisebenen gilt es in der Galerie der Stadt Backnang zu durchwandern. Ist die Soloschau, in deren Fokus neuere Arbeiten Ingerfurths stehen, damit ein Echo innerer oder äußerer Krisen? Die 51-Jährige winkt ab. „Privat“, sagt sie, „neige ich überhaupt nicht zur Schwarzseherei.“

 

Zwar dürfte die Mehrzahl der Ausstellungsbesucher in jenem Mann, der auf der Kante eines Wandstücks steht, einen Selbstmörder erblicken, doch die Künstlerin liest die von ihr erzählte Bildgeschichte mit weniger depressiven Augen: „Ich weiß ja, dass er nicht springt. Manchmal verrät einem erst das Kribbeln am Abgrund, wie gut man es hat.“ Deswegen stellt sie neben Gefahrensituationen immer auch Orte der Geborgenheit dar. Eine Geborgenheit, die sich besonders über das Ambiente der Wirtschaftswunderjahre vermittelt. Mattbunte Sitzecken, dezente Damenmode, minzfarbene Vorstädte. Anregungen hierfür bekommt die Künstlerin vor allem aus alten Foto- und Architekturbänden. In ihrem Atelier türmen sich die bibliophilen Flohmarktfunde zu schwindelerregenden Büchertürmen auf.

Das Ende einer Galerie riss Ingerfurth fast mit ins Aus

Aktuell ist die Künstlerin recht gut auf dem Kunstmarkt positioniert und im Programm der traditionsreichen Stuttgarter Galerie Valentien. Das war nicht immer so. Nach dem plötzlichen Ende der Galerie Helm/Reiswig, wo die junge Akademieabsolventin anfangs ausstellte, sah es aus, als wäre ihre Karriere vorbei. „Mit Stipendien und selbst organisierten Verkäufen“, sagt Ingerfurth, „bin ich aber trotzdem über die Runden gekommen.“ Mittlerweile sind nicht nur Privatsammler von ihrer vergnüglichen Fallenstellerei überzeugt, auch Institutionen. Für das Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus zum Beispiel gestaltete sie einen Flur in der Geriatrie.

Die Backnanger Ausstellung allerdings wäre beinahe der Pandemie zum Opfer gefallen. Einer reinen Online-Präsentation, wie sie Galerieleiter Martin Schick im Falle eines längeren Lockdowns zeigen wollte, hätte Ingerfurth sich nämlich verweigert. „Meine Gemälde funktionieren nicht auf einem Monitor“, sagt sie. Da die Künstlerin auf seitlich angeschliffenen MDF-Platten statt auf Leinwand arbeitet, sind auch Kanten links und rechts Teil des Bildgeschehens. Im Digitalen ginge das verloren. Vermutlich würde auch ein perspektivisches Umkippspiel, wie das der Schlafwandlerin an der Hochhausfassade, seine verwirrende Kraft einbüßen.

Aus banalem Alltag wird existenzielle Dramatik

Dabei entspringt, was in den Gemälden das Gefühl von existenzieller Dramatik ausdrückt, meist aus banalen Alltagsbeobachtungen. Als Beispiel nennt die Künstlerin die Baustelle vor ihrem Haus: „Wochenlang sah ich immer wieder Männer, die Bretter hin und her schleppten und ratlos auf eine Grube starrten“, sagt Ingerfurth. Dieses Bild habe sich, wie sie es formuliert, „auf der Netzhaut abgesetzt“. Und in ihrer Fantasie wurde aus dem Baggerloch irgendwann eine dampfende Schlucht. Obwohl die Tiefe streifenbunt gemustert ist, versetzt sie die winzigen Modellmenschen oben am Rand in Angst und Schrecken.

Technisch erstaunt, wie der Pinsel die Illusion von kosmisch geweiteten Räumen erzeugt – trotz des Miniaturformats mit Bildmaßen von oft nur 20 mal 30 Zentimetern. „Ich habe drei Jahre in Amsterdam gelebt“, erzählt Ingerfurth, „dort sind die Räume gern etwas kleiner, puppenstubenhafter.“ Dadurch sei ihr das Potenzial der bescheidenen Dimension deutlich geworden. „Mein akademischer Lehrer in Stuttgart, Peter Chevalier, hat stets behauptet, Malerei müsse möglichst großformatig sein.“ Im Rückblick bewertet sie die Zeit in der Grachtenmetropole als entscheidende künstlerische Emanzipationsphase. Auch Ingerfurths Bildästhetik verdankt altniederländischen Meistern entscheidende Impulse: Für Jan Vermeers besenreine Schachbrettfußböden schwärmt die gebürtige Stuttgarterin ebenso wie für die calvinistisch entschlackten Kirchenschiffe des Architekturmalers Pieter Saenredam. „Klar strukturierte Räume“, so die Künstlerin, „wirken sehr entspannend.“ Der Dschungel von Stiften, Pinseln und Farbflaschen, der Ingerfurths eigenes Atelier überwuchert, deutet freilich an, dass sie selbst sich auch in ganz anderen Umgebungen wohl fühlt.

Pools sorgen für ungewohnten Blick auf vertraute Orte

Die wimmelnde, chaotischere Seite ihres Stils tritt in einigen Collagen zutage. Gleich mehrere Schwimmbecken hat Ingerfurth da in die Stuttgarter Innenstadt versetzt. Am Charlottenplatz etwa toben wilde Badespäße. Geschmacksschelte für eine der unschönsten Ecken im Kessel? „Architekturkritik“, antwortet sie, „überlasse ich anderen. Mir ging es darum, einen ungewöhnlichen Blick auf vertraute Orte zu bieten.“ Jedenfalls ist das ironische Stadtmarketing ein Grund, auch diesem Bild nicht zu trauen.