Sie neu zu lesen, lohnt unbedingt: Die in Karlsruhe geborene Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz ist zum Opfer des männerdominierten Literaturbetriebs geworden. Daran konnte auch der Büchnerpreis nichts ändern, den sie 1955 erhalten hat.

Stuttgart - Der erste Schnee dieses Jahres fällt. Wie nasse Papierfetzen stürzen die weißen Flocken durch den grauen Himmel. Es wird dunkler im Zimmer, und schon ist das dicke Kind da, die Schlittschuhe über der Schulter, mürrisch, hungrig. Es fordert Wurstbrote und verzehrt sie noch im Mantel „langsam und stetig, wie eine Raupe frißt.“ – „Das dicke Kind“ ist eine Erzählung von Marie Luise Kaschnitz und bildete meine erste Begegnung mit dieser Schriftstellerin – klar, fast simpel an der Oberfläche, voller verstörender Untiefen auf den zweiten Blick. Ich wurde süchtig nach ihrer lakonischen Stimme, die mich durch Seelenlandschaften der Nachkriegszeit führte.