Lena, eine junge Frau in Wien ohne viele Kontakte, ist sich nicht sicher, ob sie ein Verbrechen mitangesehen hat. Sie beginnt, in ihrem neuen Viertel zu recherchieren. Das kann ins Auge gehen, denn in Anne Goldmanns Romanen ist das Stadtleben voller Fallen.

Stuttgart - Auf einem schrägen Hausdach zu sitzen und zu picheln: das ist nicht die ungefährlichste Art, einen Sommerabend in der Stadt zu genießen. In Anne Goldmanns Roman „Lichtschacht“ schaut Lena, einen junge Frau, die in Wien Fuß fassen möchte, die in einer kleinen Design-Boutique jobbt und Wohnungssitting anbietet, ein paar unbekannten Nachbarn bei solchem Treiben zu. Im einen Moment sitzen drei Leute auf dem Dach, und als Lena gleich darauf wieder hinschaut, nur noch zwei.

 

In Anne Goldmanns drittem Roman „Lichtschacht“ wird Lena von dem erklärenden Moment zwischen den Bildern, den sie verpasst hat, besessen. Ist da jemand gestürzt? Ist da gar jemand gestoßen worden? In der Zeitung stand nichts davon zu lesen. Aber die Beunruhigte schleicht weiter um das fremde Mehrparteien-Haus herum, versucht, sich Zugang zu verschaffen, will unbedingt einmal in den Innenhof schauen. Sind da vielleicht Blutspuren zu finden?

Der Schubser macht weiter

Wahrscheinlich wäre „Lichtschacht“ der straffere Roman geworden, wenn Goldmann uns auf die Perspektive von Lena zurückwerfen würde. Wenn sie uns schlicht im Unklaren darüber ließe, ob ihre Zentralfigur besonders sensibel oder ziemlich hysterisch ist. Aber Goldmann schneidet zwischen Lena und den beiden Menschen, die es heil vom Dach geschafft haben, hin und her. So wissen wir ganz genau: jemand ist tatsächlich zu Tode gekommen. Unklar bleibt anfangs lediglich, ob das ein Unfall oder Mord war.

Nicht lange aber, und wir sind sicher: der Kerl, der mit auf dem Dach saß, hat seine Freundin geschubst. Und seine Ex, die ebenfalls mit oben war und der er nun die Unfallvariante einreden möchte, hat ebenfalls nicht mehr lange zu leben. Denn klar machen, warum man nicht zur Polizei gehen sollte, kann er ihr nicht.

Offene Verdachtslenkung

„Lichtschacht“ will seine Spannung also nicht aus der Frage beziehen, was geschehen ist, sondern aus einer besonderen Variante der Täterfrage. Goldmann enthält uns die Identitäten der Dachsitzer vor. Der uns zunehmend soziopathisch vorkommende Mörder könnte einer von mehreren Männern sein, die Lena gerade frisch kennenlernt und mit denen sie ihren drängenden Verdacht, da könne etwas geschehen sein, gefährlicherweise teilt.

Das klingt vielleicht kitzliger, als es sich liest. Goldmann betreibt eine derart offene Verdachtslenkung, dass jedem halbwegs erfahrenen Leser oder TV-Zuschauer aufgeht: dieser schwer Belastete dürfte es kaum gewesen sein. Von den anderen beiden Kandidaten passt einer kaum ins Profil, also bleibt nur noch einer übrig. Ob’s nun der gewesen sein soll, oder doch im Überraschungscoup der Hauptverdächtige, erscheint uns dann nicht mehr als drängende Frage, sondern als heranrückende Willkürentscheidung der Autorin.

Einsam in der Stadt

Weil „Lichtschacht“ viel Wert auf die vermeintliche Grübelqualität eines nicht funktionierenden Rätsels setzt, wird es der bislang schwächste Roman der 1961 geborenen Autorin. Das heißt aber keinesfalls, dass er nichts zu bieten hätte. Goldmann gelingen auch hier schöne Szenen zu ihrem Leib- und Magenthema: Einsamkeit in der Stadt, das Leiden an der Isolation und Anonymität einerseits, das reale Risiko der Kontaktaufnahme andererseits. Denn in der anonymen Gesellschaft kann jeder Unauffällige ein Psychokiller sein. „Das Leben ist schmutzig“ und „Triangel“ sollte zuerst lesen, wer wissen möchte, wie Goldmann mit diesem Thema umgeht. Wer das getan hat, wird von „Lichtschacht“ sowieso nicht abzuhalten sein.

Anne Goldmann: „Lichtschacht“. Roman. Ariadne Krimi im Argument Verlag. 287 Seiten, 12 Euro. Auch als E-Book, 7,99 Euro.