Fünf Politiker, Ärzte und Forscher sitzen bei Anne Will und keiner verlangt schärfere Maßnahmen gegen Corona. Eine langweilige Talkrunde, wäre da nicht die Virologin Brinkmann, die Minister Scholz anging.

Stuttgart - Am Dienstag treffen sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten zum Corona-Gipfel, da war es nur passend, dass Anne Will in ihrer Talkrunde am Sonntagabend in der ARD den fünf geladenen Gäste eine Leitfrage stellte: Angesichts der steigenden Infektionszahlen – reichen die Maßnahmen? Aber keiner der Diskutierenden hatte große Lust, den Hardliner zu geben. Und auf Vorschläge wie die vom Städte- und Gemeindebund – keine privaten Feiern mit mehr als 50 Leuten, Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen – war das Echo der Fünf allgemein skeptisch, ablehnend oder ausweichend.

 

Schon in 50 Urteilen sind Corona-Maßnahmen gekippt worden

Von einem Liberalen wie Wolfgang Kubicki, dem Vize-FDP-Vorsitzenden aus Kiel, ist ohnehin kein Plädoyer für eine Verschärfung zu erwarten. Aber wie der Hobbysegler Kubicki dann seine Argumente vorträgt, das ist immer wieder schön zu hören: „Wir haben in Schleswig-Holstein Windstärke vier – was soll da eine Maske?“ In Fahrstühlen sei die Maske ja angebracht, aber was bringe sie dort, „wo es keine Menschenansammlungen“ gebe, und was solle ein Tanzverbot bei einer Hochzeit mit 50 Gästen? Maßnahmen gegen Corona müssten „notwendig, sinnvoll und verhältnismäßig“ sein – aber bereits in 50 Urteilen von Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten seien Corona-Maßnahmen schon als rechtswidrig oder verfassungswidrig gekippt worden, so Kubicki. Man brauche eine parlamentarische Debatte über die Einschnitte.

Warum solle sie am Strand eine Maske tragen, fragt die Professorin

Ins gleiche Horn wie Kubicki stieß die Virologin Melanie Brinkmann von der Technischen Universität Braunschweig. Eine Maskenpflicht in dichtem Gedränge wie beim Viktualienmarkt in München oder beim Kröpcke in Hannover sei vielleicht angemessen. „Aber am Strand? Oder wenn ich abends mit dem Hund gehe? Die Maßnahmen müssen doch Sinn machen.“ Allerdings fürchtet Professorin Brinkmann die kalte Jahreszeit, denn das Infektionsrisiko in geschlossenen Räumen steige, und sie werbe dafür den Dreiklang Abstand-Hygiene-Alltagsmaske – abgekürzt AHA – durch ein „L“ wie „Lüftung“ zu ergänzen. Und so ganz ausschließen will Brinkmann eine Debatte über die Größe privater Feiern auch nicht. Es sei ja schon ein Unterschied, ob da zwölf oder 250 Hochzeitsgäste im Saal seien, und hier einzuschränken hält Brinkmann für „nachvollziehbarer“, jedenfalls eher als die erneute Schließung von Restaurants, Geschäften oder Schulen.

Ansteckungsgefahr besteht auch bei einer Party mit zehn Gästen

Ausgerechnet ein Ärztevertreter bremste da, entpuppte sich als der größte Feind vom Drehen an der Maßnahmenschraube unter den Fünf: Andreas Gassen, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er halte nichts davon „alarmistisch“ auf Infektionszahlen zu starren und jeden Morgen mit „sorgenschwangerer Stimme“ zu verkünden, „wie furchtbar alles wird“. „Das glaubt doch keiner mehr“, so Gassen. Man brauche transparente und vernünftige Maßnahmen, denn sonst halte sich keiner mehr dran. Auch die Zahlenspiele, ob eine Feier nun mit 50 oder 60 gefährlich sei, hält Gassen für verfehlt.

Anstecken könne man sich auch bei einer Party mit zehn Leuten. Besser als Zahlenvorgaben seien deshalb Regeln, Eigenverantwortung und die Möglichkeit für Gesundheitsämter, Infektionsketten nachzuverfolgen. Im übrigen müssten die Politiker „auch mal mutig sein und etwas nicht verbieten“, so Gassen. Den Irrglauben, je schärfer die Maßnahmen seien, desto besser sei der Umgang mit Corona, sieht der Ärztefunktionär vor allem „im Süden der Republik“ verankert – ein Seitenhieb auf Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.

Die Reisewarnung von Spahn war gar keine

Aber Politiker erlassen nicht nur Verordnungen, sie sprechen auch Appelle und Warnungen aus. So fragte Anne Will denn nach der „Reisewarnung“ von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der davon abriet im Herbst und Winter ins Ausland zu fahren. Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, konnte an Spahns Worten nichts Anstößiges entdecken: „Das war ja keine Reisewarnung. Er macht nicht die Grenzen zu. Es war nur ein kommunikativer Hinweis, dass eine Verhaltensänderung vielleicht klug wäre.“ Im übrigen empfahl Buyx wärmstens die Corona-Warn-App, die sei extrem sicher, die Daten blieben alle beim Nutzer, das Mitmachen sei freiwillig. Mit dieser App rette man vielleicht einmal das Leben der Großmutter eines anderen Menschen – „und irgendwann vielleicht mal das Leben der eigenen“. Die Mitmachzahl – 18 Millionen haben die App – hält sie für zufriedenstellend.

Was nun beim Kanzlertreffen am Dienstag herauskommen wird, das wollte auch Minister Olaf Scholz nicht vorhersagen. Auch Scholz sagte, er sei „skeptisch“, ob das 50-Leute-Party-Limit wirklich sinnvoll sei. Wie so oft in Talkrunden lobte Scholz die Art und Weise, wie der Föderalismus in Deutschland die Krise meistert und „sehr regional, flexibel und sofort“ reagiere, „wenn das Infektionsgeschehen aus dem Ruder läuft“. Im übrigen, so der Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat, hätten andere Länder trotz schärferer Maßnahmen höhere Infektionszahlen als Deutschland.

Geschlossene Fenster an Schulen – wie soll man da lüften?

Anne Will wies den Bundesminister auf das Problem mit den Schulen hin, wo vielfach die Fenster nicht geöffnet werden könnten und ein Corona-Lüften gar nicht möglich sei. Und sie wollten von ihm wissen, ob er denn „ausschließen“ könne, dass Schulen wieder allgemein und flächendeckend in den Lockdown geschickt werden. Scholz weigerte sich daraufhin, die früheren Planer der Schulen, die ja damals andere Sicherheitsaspekte im Auge hatten, „zu beschimpfen“. Und er sagte, „wir machen alles dafür“, dass es nicht wieder zur Schulschließung komme, aber man wäre doch „verrückt“ in solchen Talkrunden über Corona „irgendetwas“ auszuschließen.

Scholz kann nicht antworten – die Zeit ist um

Diese Worte wiederum brachten die Virologin Brinkmann – Mutter von drei Kindern – in Harnisch. Sie sprach Scholz direkt an und schloss etwas definitiv und mit fester Stimme aus: „Es wird solch eine flächendeckende Schließung von Schulen in Deutschland nicht mehr passieren. Wir müssen den Regelbetrieb aufrechterhalten.“ Man müsse das Infektionsgeschehen unter Kontrolle bringen, und dann werde man das öffentliche Leben aufrecht erhalten können. Die geschlossenen Schulfenster, so Brinkmann, seien im übrigen ein „Missstand“. Man brauche rasch eine bessere Ausstattung der Schulen und benötige Raumlüftungssysteme. Eine Chance zum Antworten erhielt Scholz nicht. Die Sendezeit war zu Ende.