Das Massaker mit über 300 Toten in Ägypten trägt die Handschrift des IS. Die Regierung versucht seit Jahren vergeblich der Lage Herr zu werden.

Tunis - Das Blutbad der Terroristen war mit teuflischer Präzision geplant. Scheich Mohamed Abdel Fatah hatte gerade mit seiner Freitagspredigt begonnen, als draußen vor der Al-Rawdah-Moschee fünf Geländewagen mit 25 bis 30 Bewaffneten vorfuhren, die das Gebäude umzingelten und das Feuer mit Handgranaten und Sturmgewehren eröffneten. Von der Tür aus und durch zwölf der Fenster schossen sie auf die in Todesangst schreienden Beter, von denen einige versuchten, sich in die Waschräume zu flüchten oder nach draußen zu entkommen. Knapp eine halbe Stunde dauerte das Massaker, dann lagen 305 Menschen tot auf dem Boden, darunter 27 Kinder. Bir al-Abed liegt auf dem Nordsinai, 40 Kilometer von der Provinzhauptstadt El-Arish entfernt an der Fernstraße ins Niltal, ein Städtchen mit 6000 Einwohnern, dessen wichtigster Arbeitgeber eine Salzfabrik ist.

 

Der Präsident schwört Rache

Aufgebracht und erschüttert schwor Präsident Abdel Fattah al-Sisi in einer Fernsehrede, Armee und Polizei würden die „Märtyrer rächen“ und „mit brutalster Härte“ zurückschlagen. Gleichzeitig kündigte er an, die Regierung werde ein Mausoleum für die Opfer errichten. Die koptische Kirche, bisher das primäre Ziel von religiös motivierten Terroranschlägen, ließ aus Solidarität im ganzen Land die Kirchenglocken läuten.

Viele Muslime in Bir al-Abed sind Anhänger des Sufismus, einer Strömung des Islam, die ekstatische Tänze, mystische Gotteserfahrungen und die Verehrung frommer Meister kennt. Nach Angaben der Bewohner erschienen eine Woche vor dem Attentat Islamisten in dem Ort und forderten die Bewohner auf, die Sufi-Praxis zu beenden und ihr Zentrum zu schließen, welches direkt gegenüber der Al-Rawdha-Moschee liegt. Salafisten, zu denen auch die IS-Fanatiker zählen, betrachten Sufi-Muslime als Gotteslästerer. Vor allem 2011 und 2012 nach dem Arabischen Frühling kam es in Ägypten zu massenhaften Attacken auf Sufi-Heiligtümer. Mehr als drei Dutzend wurden zerstört, die meisten in der Region von Alexandria.

Blockaden haben nicht geholfen

Nach der IS-Drohung in Bir al-Abed schloss der örtliche Scheich das Sufi-Versammlungshaus. Gleichzeitig blockierten Bewohner am vergangenen Freitag vorsichtshalber mit ihren Autos die Zufahrten zur nahen Moschee – für die Angreifer in den Geländewagen jedoch kein Hindernis.

Das bisher schwerste Terrormassaker in der Geschichte Ägyptens trägt die Handschrift des sogenannten Islamischen Staates, obwohl sich bisher niemand zu der Mordtat bekannte. Seit vier Jahren liefern sich Ägyptens Streitkräfte im Nordsinai, wo 420 000 Menschen leben, einen erbarmungslosen Krieg gegen die Terroristen, der die Zivilbevölkerung nicht schont und immer mehr Leute in die Arme der Radikalen treibt.

Keine Beobachter aus dem Ausland

Nach Angaben israelischer Militärexperten, die das Geschehen an der südlichen Grenze Israels beobachten, meldete die ägyptische Seite seit Beginn der Kämpfe 2013 mehr als 6000 erschossene Terroristen, obwohl westliche Experten die Zahl der IS-Mitglieder auf eintausend, höchstens 1500 schätzen. Wer die vielen Tausend anderen Toten sind, ist unklar, auch weil Ägyptens Führung keine ausländischen Beobachter oder Journalisten in das Kampfgebiet lässt. Im Februar tauchte im Internet ein Video auf, das die Exekution von sechs jungen Männern in Jeans zeigt, von denen die Streitkräfte zuvor behauptet hatten, sie seien als Terroristen in einem Gefecht getötet worden.

Eine verzweifelte Machtdemonstration Kairos

Ägyptische Menschenrechtler gehen davon aus, dass mindestens 25 000 Einwohner der Kriegsregion inzwischen obdachlos sind und als interne Flüchtlinge in anderen Teilen des Landes Schutz suchen mussten. Einige ägyptische Generäle schlagen jetzt sogar vor, den gesamten Nordsinai zu evakuieren. Und so wirkten die von Präsident Sisi angeordneten Luftangriffe auf die Umgebung von Bir al-Abed wie eine verzweifelte Machtdemonstration in einem Konflikt, den seine Sicherheitskräfte seit Jahren nicht unter Kontrolle bekommen. „Wo war die Armee?“, fragte einer der Überlebenden, der 18 Verwandte bei dem Massaker verlor. „Sie ist nur wenige Kilometer weg. Dies ist die Frage, auf die wir keine Antwort haben.“