Es braucht keinen eigenen Garten, um selbst Gemüse anzubauen. Anbieter wie Ackerhelden und Meine Ernte vermieten kleine Ackerstreifen von Biobauern in Stuttgart. In diesem Jahr ist der Andrang größer denn je. Die Motivation ist aber unterschiedlich.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Möhringen/Sillenbuch - Gießen und Radieschen ernten; das mag Nolan am liebsten. Die Radieschenernte gefällt ihm sogar so gut, dass der Fünfjährige bereits ausnahmslos alle der roten Knollen aus der Erde gezogen hat. Eigentlich wäre Nolan Dominguez an diesem Vormittag im Kindergarten der International School Stuttgart (ISS) in Degerloch – doch aufgrund des Coronavirus und der bisher eingeschränkten Betreuungszeiten in den Kitas verbringt er nun viel Zeit mit seiner Mutter auf dem Feld. Die Familie bewirtschaftet einen etwa 45 Quadratmeter großen Ackerstreifen, den sie über den Anbieter Meine Ernte beim Möhringer Biobauern Klaus Brodbeck angemietet haben. „Wir sind sehr froh, dass wir in dieser Corona-Zeit den Acker haben“, sagt die Mutter Holly Dominguez (41). „Das ist eine tolle Familienaktivität.“

 

Vor einem knappen Jahr ist die Multikulti-Familie (Holly Dominguez ist Kanadierin, ihr Mann kommt aus Mexiko) mit den beiden Kindern aus Michigan in den USA nach Stuttgart-Möhringen gezogen. Bei einem ihrer Spaziergänge über die Felder hat die Familie die Gemeinschaftsgärten entdeckt – und meldete sich für das kommende Jahr bei Meine Ernte an. Am 1. Mai ging die Ackersaison los, seitdem kommen die Dominguez’ fast täglich zu ihrer 45 Quadratmeter großen Parzelle. Die Familie wohnt nur zwei Blöcke entfernt, „das ist super“.

Bei allen Standorten Auslastung von 100 Prozent

Wenn alles klappt, wachsen auf dem vorderen Teil ihres Felds, dem Wunschbeet, bald Tomaten, Kräuter, Blumen sowie scharfe Paprikasorten wie Jalapeños und Habaneros. Die hat die Familie selbst gesät und eingesetzt. Weiter hinten hat der Biobauer Klaus Brodbeck etwa 20 Sorten Gemüse gepflanzt, zum Beispiel Kartoffeln und Brokkoli, Rote Bete, Kürbis und Kohlrabi, Salat und Zucchini. Insgesamt 235 Gärten hat er angelegt.

„Auch wenn das blöd klingt: Für uns kam Corona zum perfekten Zeitpunkt“, sagt Natalie Kirchbaumer, eine der Gründerinnen von Meine Ernte. „So schnell waren wir noch nie ausgebucht.“ Eigentlich war vorgesehen, dass in Möhringen 200 Parzellen vermietet werden. Weil die Nachfrage im März und April aber so radikal in die Höhe schoss, wurden nachträglich noch einmal 35 Parzellen ergänzt, „und auch die waren innerhalb von fünf Tagen ausgebucht“. Natalie Kirchbaumer führt die erhöhte Nachfrage nicht nur, aber auch auf die Pandemie und die damit zusammenhängenden Einschränkungen zurück: „Wenn man in der Großstadt lebt und dort zuletzt mit seinen Kindern nicht einmal auf den Spielplatz durfte, bietet ein Acker sehr viel Freiheit.“ Durch das Coronavirus erleben die Mitarbeiter von Meine Ernte dieses Jahr sogar eine Premiere: Deutschlandweit, bei allen 27 Standorten, liegt die Auslastung bei 100 Prozent. Vielen Interessenten musste abgesagt werden.

Angst, dass es im Supermarkt kein Gemüse gibt

Ganz ähnlich ist es bei dem Anbieter Ackerhelden, der mit dem Biobauer Klaus Wais in Stuttgart-Sillenbuch kooperiert. „Die Anzahl der Parzellen, die ich zur Verfügung stelle, wächst von Jahr zu Jahr – in diesem Jahr aber besonders stark“, berichtet Klaus Wais. Vor vier Jahren hatte er mit 35 Ackerstreifen angefangen, 2018 und 2019 bot er dann jeweils 75 an. In diesem Jahr sind es 115 – und jede einzelne ist belegt. Der Landwirt glaubt, dass die Nachfrage darin begründet liegt, dass es zunehmend im Trend sei, „sich in dieser zunehmend technisierten Welt der Natur zuzuwenden“.

Einige hätten sich in diesem Jahr aber auch aus einer gewissen Verunsicherung heraus angemeldet, sagt Tobias Paulert, einer der Gründer von Ackerhelden. „Manche haben befürchtet, dass sie in diesem Jahr nicht all ihre Lieblingsgemüsesorten im Supermarkt finden.“ Gerade bei den Kurz-vor-Knapp-Anmeldungen im April sei dies der Fall gewesen.

Leute kennenlernen auf dem Feld

Der Familie Dominguez geht es vor allem darum, den Kindern den Gemüseanbau nahezubringen. „Wir wollen Nachhaltigkeit vorleben“, sagt Holly Dominguez. Außerdem würden sie auf dem Acker viele Menschen kennenlernen. „Das ist eine tolle Gemeinschaft hier“, schwärmt sie. „Obwohl wir noch nicht gut Deutsch sprechen, sind alle so freundlich zu uns.“