Bis in die 60er Jahre wurden in antarktischen Gewässern Wale gejagt. Die Folgen sind bis heute zu sehen: es gibt kaum noch Wale, dafür jede Menge Krill – und entsprechend viele Pinguine und Pelzrobben, die sich vom Krill ernähren.

Stuttgart - Es ist ein sonniger Tag in Grytviken, der alten Walfangstadt auf der Insel Südgeorgien. Das ist selten auf diesem Vorposten zur Antarktis, meistens pfeift der Wind hier erbarmungslos über die schwarzen Berge mit ihren Schneehauben – auch während des kurzen antarktischen Sommers. Ein zartes Grün bedeckt die felsigen Hänge, schwarze, filzige Pelzrobbenbabys jaulen am Strand. Sie müssen warten, bis ihre Eltern mit Nahrung zurück aus dem Meer kommen. Der 600 Kilo schwere Nachwuchs der Seeelefanten mit großen Kulleraugen liegt hingegen faul in der Sonne. Ab und zu schnauben die dicken Tiere laut, um die störenden Nasenmilben aus ihren Nüstern auszupusten.

 

Unwirklich heben sich die rostigen, 20 Meter hohen, asbestverseuchten Stahltanks gegen diese idyllische Kulisse ab. Eine ganze Walfangstadt rottet in der Bucht vor sich hin. Hier wurde bis 1965 das Walöl aus der dicken Fettschicht der Wale, Blubber genannt, ausgekocht und weiter verarbeitet. Ein verrosteter Walfangschlepper, dessen Harpune noch in den stahlblauen Himmel ragt, zeugt von dieser Ära. Auf die großen Entdecker Scott, Amundsen und Shackleton, die zu Beginn des Jahrhunderts bis zum Südpol vordrangen, folgte eine Massenindustrie rund um den Eiskontinent.

Der optische Kontrast auf Südgeorgien steht sinnbildlich für die Invasion des Menschen ins ewige Eis. „ Die Antarktis ist ein hoch kompliziertes Ökosystem“, sagt der Biologe Ulrich Erfurth, der mit Gummistiefeln und gelber Regenjacke am Strand entlang stapft. Er begleitet das Expeditionsschiff der MS Bremen auf seiner Reise von Feuerland über Südgeorgien bis zur antarktischen Halbinsel und zurück.

Die Antarktis ist ein Biotop der Überlebenskünstler

„Um unter diesen extremen Bedingungen mit Temperaturen bis zu 30 Grad minus überleben zu können, müssen die Tiere sich anpassen“, erklärt Erfurth. Die Kaiserpinguine etwa, die auf dem antarktischen Festland leben, vermehren sich bei minus 20 Grad und Schneestürmen. Über Monate drängen sich die Jungtiere in Gruppen, während die Weibchen Hunderte von Kilometern laufen und im Meer Nahrung suchen. Bis das Eis im Dezember bricht, müssen die kleinen Tiere flügge sein.

Alles ist aufeinander abgestimmt. „Die Tiere müssen das schmale Zeitfenster nutzen, das ihnen bleibt“, sagt Ulrich Erfurth. Und alles dreht sich um den Krill, das sind Minikrebse, die sich zu Teppichen zusammenrotten, die Hunderte von Kilometern lang werden. Krill wird von Robben, Walen, Pinguinen und Seevögeln gefressen. Wie sensibel diese Nahrungskette funktioniert, zeigt sich bei Albatrossen. Diese majestätischen Vögel können über viele Kilometer die Ausdünstungen des Planktons riechen, der Nahrung des Krills. „Sie bemerken, wie das Plankton pupst“, sagt Erfurth. Daraus schließen sie, dass dort Krill vorkommt.

So hängt alles mit allem zusammen. Die Antarktis ist ein in sich abgeschlossenes System. „Die zirkumpolare Meeresströmung rund um den ganzen Kontinent trennt das Meer von den übrigen Ozeanen“, erklärt der Geologe Stefan Kredel, der die Expedition ebenfalls begleitet. Ein gigantischer Wasserstrom umfließt im Uhrzeigersinn den Kontinent, und wirkt so wie ein Schutzwall nach Norden. In dieses riesige Biotop von tierischen Überlebenskünstlern ist polternd durch die Vordertür der Mensch vor 100 Jahren eingefallen. Heute leben auf Südgeorgien nur 25 Briten, die ein Museum und die Inselverwaltung betreiben. Vor 80 Jahren war Grytviken einpulsierendes Zentrum des Walfangs.

Davon berichtet eine der wenigen Einwohnerinnen, die für die wenigen Touristen Führungen anbietet. „Es war für die norwegischen Bürger sehr lukrativ, hier zu arbeiten. Sie haben auf heutige Verhältnisse gerechnet 5000 bis 6000 Euro verdient“, sagt sie. Ein paar Jahre harter Frondienst auf den Walfängern habe gereicht, um sich eine Farm in der Heimat zu leisten.

Mehr als 175.000 Wale wurden auf Südgeorgien verarbeitet, die ganze Küste Südgeorgiens ist von ehemaligen Walfangstationen durchzogen, die inzwischen vor sich hinrosten. Dieser Raubzug war für die Natur desaströs. „Früher konnte man in der Weddellsee alle paar Meilen Wale schwimmen sehen, heute ist das extrem selten“, berichtet der Biologe Ulrich Erfurth. Auf der Expeditionsfahrt werden zwei Mal Wale gesichtet, die meisten hinter dem Lemaire-Kanal bei der antarktischen Halbinsel. Von den 250.000 Blauwalen in den südlichen Gewässern sind noch 1000 bis 2000 übrig. Von einer halben Millionen Finnwalen noch 10.000.

Die Folgen des intensiven Walfangs

Warum dieser Raubbau? „Vor Erfindung der Elektrizität war das Walöl ein wichtiger Rohstoff“, erklärt der Historiker Ingo Heidbrink, der in den USA und Kanada Schifffahrtsgeschichte lehrt. Die Lampen der Straßenlaternen wurden mit Walöl betrieben, aus dem Speck wurden Kosmetika, Waschmittel oder Lebensmittel hergestellt, selbst die Knochen wurden eingekocht. „Alle Teile der Wale wurden genutzt – ein extrem lukratives Geschäft.“

Die Deutschen stiegen unter dem Hitlerregime in den 30er Jahren in den kommerziellen Walfang ein, allein in der Saison 1938/39 fingen sie mehr als 50.000 Wale. „Es musste die sogenannte Fettlücke geschlossen werden“, sagt Ingo Heidbrink. Das Deutsche Reich habe chronischen Fettmangel gehabt, 90 Prozent etwa der Margarine und des Industriefetts musste durch Importe gedeckt werden.

So intensiv haben Konsortien – zumeist aus Norwegen, Japan und Argentinien – die südlichen Gewässer bejagt, dass dies nach wenigen Jahrzehnten kaum noch wirtschaftlich war. So wurde Grytviken wie andere Landstationen auch 1965 aufgegeben, die Wale wurden auf schwimmenden Fabrikschiffen weiterverarbeitet. „Das war effizienter, irgendwann aber gab es selbst dafür zu wenig Tiere“, berichtet der Historiker Ingo Heidbrink.

Man habe dramatisch unterschätzt, wie lange die Wale benötigen, um sich wieder zu reproduzieren. Die meisten Arten tragen bis zu 16 Monate lang ihren Nachwuchs aus und säugen ihn weitere vier Monate. „Ob sich die Bestände jemals erholen werden, ist fraglich“, meint Ulrich Erfurth.

Manche Tierarten vermehren sich explosionsartig

Ein solcher Eingriff bringt das System aus dem Tritt. So profitieren vom Verschwinden der großen Meeressäuger andere Tierarten, die paradoxerweise ebenfalls unter der menschlichen Präsenz gelitten haben. „Die Pelzrobben haben sich explosionsartig vermehrt“, sagt Ulrich Erfurt. Im Jahr 1930 lebten gerade noch 100 Exemplare der sogenannten Seebären, inzwischen werden sie auf 1,6 Millionen geschätzt. Denn ohne Wale war plötzlich unglaublich viel mehr Krill im antarktischen Meer zu finden.

Was das konkret bedeutet, zeigt sich in Südgeorgien etwas weiter südlich auf der Insel, in Salisbury Plain. Schon am Sandstrand, dessen Boden durch vulkanisches Gestein schwarz gefärbt ist, begrüßt eine kaum noch überschaubare Zahl an Pelzrobben den Besucher. Die Männchen hüten ihr Revier und ihren Harem mit bis zu zwölf Weibchen, die sie beglücken. Die Reihe der kleinen Pelzknäule scheint kaum enden zu wollen. Aber gegenüber der Königspinguin-Kolonie verblasst ihre Anzahl.

Wer vorbei an einer prächtigen Kulisse aus alpenähnlichen Gletschern und ultramarinblauem Meer läuft, sieht wohl eines der beeindruckendsten Bilder in den südlichen Gewässern: 250.000 Königspinguine brüten hier ihre Eier aus, die Ansiedlung reicht den Berg hoch, so weit das Auge blicken kann. „In der Antarktis leben inzwischen vier Millionen Königspinguine “, berichtet Ulrich Erfurt.

Die Tiere stehen so dicht beieinander, dass es Rangeleien gibt. Ähnliche Bilder finden sich auf den Falklandinseln, auf New Island etwa kämpfen Kormorane, Felsenpinguine und Albatrosse um die Brutplätzen an der steilen Felsküste. Oder auf Peterman Island, tief im Süden der antarktischen Halbinsel, wo Eisschollen und Tafeleisberge im Meer schwimmen. Hier verdrängen Eselspinguine die edlen Adelie-Pinguine mit ihren blauen Augen.

Die eingeführten Rentiere wurden wieder abgeschossen

Die Biologen sind ob dieser Bilder hin- und hergerissen. Einerseits sei es erfreulich, weil auch diese Tierarten in den 20er und 30er Jahren fast ausgerottet wurden. „Das weiche Robbenfell war begehrt, auch das Fett wurde genutzt“, erklärt Ulrich Erfurth. Doch die Zahl sei inzwischen so extrem angestiegen, dass andere Tierarten bereits darunter leiden.

Die Tierwelt der Antarktis und ihrer vorgelagerten Inseln ist inzwischen durch ein Abkommen von 1960 geschützt. Das läuft allerdings bald aus. Zudem gibt es trotz des Vertrages Bedrohungen. „Bis heute macht uns die illegale Langleinenfischerei große Sorgen“, berichtet Ulrich Erfurt. Die Fischer werfen kilometerlange Netze mit Haken aus, an denen Kalmare hängen. Bis sie zu Boden sinken, schwimmen sie einige Zeit auf der Oberfläche.

Ausgerechnet die stolzesten Tiere des siebten Kontinentes, die bis zu 80 Jahre alt werdenden Albatrosse mit ihren 2,40 Metern Spannweite, fallen dieser Technik zum Opfer. „Sie schnappen nach dem Kalmar und werden mit in die Tiere gezogen.“ So sind diese weißen Seevögel stark bedroht, denen die Seefahrer nachsagen, in ihnen wohnten die Seelen der Toten.

Eine besonders skurrile Hinterlassenschaft des Menschen findet sich wiederum in Südgeorgien, diesmal auf der anderen, südlichen Seite der Insel. Die Bucht Fortuna Bay ist legendär, weil der große Entdecker Ernest Shackleton 1917 nach einer unglaublichen Odyssee 1200 Meilen über das eisige Meer mit einem Beiboot hier angelandet ist. Die „James Caird“ ist heute im Museum von Grytviken aufgestellt, Shackletons Grab ist Ziel vieler Besucher.

Nichts zeugt heute von dieser historischen Irrfahrt. Wohl aber sind Rentiere in den Bergen und am Strand zu sehen, sie wurden einst von den Norwegern eingeführt. Die inzwischen 3000 Tiere fressen das langsam wachsende Tussokgras weg, und gefährden das Ökosystem. Immerhin dieses Erbe der Menschheit wurde nun im Januar beseitigt: Samische Jäger aus Norwegen haben die Tiere an den Strand getrieben und abgeschossen. So endet selbst die nachträgliche Korrektur der menschlichen Eingriffe in einem Gemetzel.