Nach den vielen Meldonium-Fällen stellt sich erneut die Frage: Was nehmen Sportler denn noch alles ein in der Hoffnung, sich wenigstens einen minimalen Vorteil zu verschaffen?
Mich überrascht das nicht. Im Leistungssport gibt es keine Ethik. Da wird alles gefressen, was der Arzneimittelschrank hergibt. Passend zur mehrfach wiederholten Studie des US-Arztes Bob Goldman, nach der mehr als 50 Prozent der Top-Athleten bereit wären, innerhalb von fünf Jahren an ihrem Dopingmissbrauch zu sterben, wenn sie dafür Olympiasieger werden. Rücksicht auf die eigene Gesundheit? Gibt es nicht!
Welche Namen gehen Ihnen durch den Kopf?
Viele. Zum Beispiel Linford Christie, ein früherer Sprinter. Er hat seinen Körper im Lauf seiner Karriere mit mehr als 100 verschiedene Substanzen angetrieben. Wie gefährlich das ist, zeigt einer der Lehrsätze der Pharmakologie: Jede Substanz, die signifikant im Körper wirkt, hat auch eine Nebenwirkung. Deshalb spielen alle Doper mit ihrer Gesundheit – bis hin zum Tod.
Ihr Kollege Perikles Simon, der mit Ihnen auch in der Evaluierungskommission in Freiburg saß, geht davon aus, dass bis zu 60 Prozent der Hochleistungssportler gedopt sind. Eine realistische Zahl?
Er hat seine These sehr gut begründet, die Zahl bleibt aber Spekulation. 60 Prozent ist mir persönlich ein bisschen zu hoch – auch weil viele Sportler doch Angst haben, erwischt zu werden. Aber klar ist: Jede Sportart hat ihre Droge und ihre spezielle Kombination aus Dopingmitteln.
Und dazu . . .
. . . kommen weitere Substanzen, die gar nicht verboten sind: Schmerzmittel, Antidepressiva, Nikotin. Ich stelle mir schon die Frage, wie die Gesellschaft damit umzugehen hat, wenn Erfolge im Spitzensport nur noch mit Arzneimitteln zu schaffen sind. Deshalb verstehe ich auch nicht, wieso erfolgreiche Sportler automatisch immer gleich zu Vorbildern hochstilisiert werden. Oder braucht das Volk Brot und Spiele?
Was heißt das für die Olympischen Spiele im Sommer in Rio de Janeiro?
Dass es wieder Olympische Doping-Spiele werden, ohne dass es viele positive Tests gibt. Dazu sind die Sportler und ihre Berater zu clever. Die Dopinglabore müssen bei den Top-Tricksern immer neu aufrüsten, um nachzukommen. Manchmal gelingt das, manchmal aber auch nicht.
Und trotzdem fordert Innenminister Thomas de Maiziére, dass deutsche Athleten in Brasilien ein Drittel mehr Medaillen als 2012 in London gewinnen – damals waren es 44.
Wenn die Sportler diese Forderung ernst nehmen, ist es nicht nur eine Aufforderung zum Dopen, sie werden dann sogar unter Druck gesetzt, dies zu tun. Diese Aussage ist völlig inakzeptabel, auch angesichts der relativ bescheidenen finanziellen Unterstützung, die der Staat dem Sport gewährt.