Und jetzt? Jetzt sitzt Rachel Berger vor einem Stapel Papier, als wolle sie etwas sortieren, was sich nicht so einfach sortieren lässt. Sie ist 51 Jahre alt, aufgewachsen in London, Geschäftsfrau mit eigenem Unternehmen, mit ihrem deutschen Mann und drei Kindern lebt sie seit 2003 in Berlin, ein weltliches Leben, Religion spielt keine große Rolle. Rachel ist ein Machertyp, effizient, lösungsorientiert, und vielleicht auch deshalb will ihr nicht in den Kopf, was da passiert ist – weil es anders hätte laufen können.

 

Oben auf dem Stapel liegt ein Papier mit der Überschrift „Mobbingprotokoll“. Samuel hat hier aufgeschrieben, was ihm passiert ist. Die Aufzeichnungen beginnen eine Woche nach seinem ersten Tag an der neuen Schule. Sam wollte hierher, er wollte weg von dem bürgerlichen Potsdamer Gymnasium, auf das er seinem großen Bruder gefolgt war. Drei Viertel der 850 Schüler auf der Gemeinschaftsschule Friedenau haben Deutsch nicht als Muttersprache, viele arabische oder türkische Wurzeln, eine echte Großstadtschule, nicht einfach, aber die Pädagogen gelten als engagiert, haben moderne Lernkonzepte eingeführt.

„Übrigens, wir sind Juden – das ist doch kein Problem?“

Rachel Berger erinnert sich, wie sie dem Schulleiter im ersten Gespräch sagte: „Übrigens, wir sind Juden, das ist doch kein Problem oder?“ Sie kam sich komisch vor, es überhaupt zu erwähnen. Die ersten Tage an der Schule Ende November laufen toll, Samuel ist begeistert. Am Donnerstag der ersten Woche hat er zum ersten Mal Ethik-Unterricht, Thema Weltreligionen. Er sagt, dass er Jude ist. „Er war völlig überrascht von der Reaktion“, sagt seine Mutter. „Im Klassenzimmer herrschte Totenstille, die Mitschüler blickten ihn schockiert an.“ Tags darauf kommt sein neuer Freund Orhan auf ihn zu. Die Jungs mögen einander vom ersten Tag an. „Hey, bist du wirklich ein Jude?“, habe er gefragt. Sam nickt. „Du bist ein echter Babo, aber dann können wir nicht befreundet sein“, habe Orhan geantwortet. „Er sagte es bedauernd“, sagt Samuel. Dann folgte eine Aufzählung der Gründe. Ein antisemitisches Klischee reiht sich ans andere. Juden sind Mörder, geldgierig, und so weiter.

„Ich hatte Angst, was jetzt passiert“, erinnert sich die Mutter. Die Familie bespricht, was man tun könnte. Samuels Großeltern haben den Holocaust überlebt. Seit Jahren sprechen sie vor Schülern als Zeitzeugen. Sofort sagen sie ihrem Enkel, dass sie gern auch in seine Klasse kommen. Rachel Berger googelt sich am Wochenende Lösungsansätze zusammen. Sie findet eine interreligiöse Berliner Initiative, hat Kontakt zu einer Türkin, die selbst Rassismuserfahrungen gemacht hat und vor der Klasse sprechen könnte. Am Montag hat sie ohnehin einen Termin beim Schulleiter für die Formalitäten der endgültigen Anmeldung. „Ich erzählte ihm alles, und er fand die möglichen Vorschläge gut“, sagt Berger. „Er versprach, sich zu kümmern.“ Das war am 5. Dezember. „Aber drei Monate lang passierte nichts davon“, sagt Rachel Berger. „Keine externe Hilfe.“ Irgendwann trifft sie auf die Sozialarbeiterin der Schule, fragt nach, was denn geplant sei. „Sie sagte zu mir: Wir wollen uns nicht von Ihnen überrollen lassen.“