Antisemitismus Sind deutsche Eliten Antisemiten?

Nicht nur der Davidstern steht für die enge Verflechtung von Religion, Kultur, Politik und Historie in Israel. Kritik am Staat kann da schnell einen miesen Zungenschlag bekommen – oder mit dem Vorwurf des Antisemitismus ausgekontert werden. Foto: dpa/Federico Gambarini

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum (SWZ) hat eine Initiative deutscher Kultureinrichtungen auf Platz sieben der schlimmsten antisemitischen Vorfälle des Jahres 2020 gewählt. Die vom SWZ als „deutsche Elite“ betitelten Kulturschaffenden wehren sich mit Gegenangriffen.

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Stuttgart - Am 29. Dezember 2020 hat das Simon-Wiesenthal-Zentrum (SWZ) in Los Angeles eine Liste veröffentlicht, die in der deutschen Kulturpolitik für heftige Debatten sorgt: eine Liste der zehn nach seiner Einschätzung „schlimmsten antisemitischen Vorfälle“ des Jahres weltweit. Einige Platzierte überraschen kaum: zum Beispiel der oberste religiöse Führer des Iran, Ajatollah Ali Chamenei. Platz sieben allerdings birgt Zündstoff. Hier findet sich die deutsche Initiative GG 5.3 Weltoffenheit.

 

Kulturinstitutionen kritisierten eine Resolution gegen die BDS

Deren Name nimmt Bezug auf den Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ In der Initiative hat sich eine Reihe renommierter deutscher Kultureinrichtungen zusammengefunden, das SWZ nennt sie die „deutsche Elite“, um im Dezember 2020 eine Resolution des Bundestages vom Mai 2019 zu kritisieren.

Das Parlament hat darin eine andere politische Initiative, die BDS, als „antisemitisch“ eingestuft und verlangt, sowohl diese selbst als auch deren Unterstützer sollten von der Bundesregierung keine Zuschüsse mehr erhalten. Die BDS – die Abkürzung steht für „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ – ist nach eigenen Angaben „eine palästinensisch geführte Bewegung für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit“, die den Staat Israel international isolieren will.

Die BDS fordert zum Boykott israelischer Waren sowie sportlicher, kulturellerer, akademischer Veranstaltungen und Institutionen auf. Sie stört mit Protestaktionen Veranstaltungen, die dieser Aufforderung nicht Folge leisten – Festivals oder Kongresse etwa, an denen israelische Künstler und Wissenschaftler teilnehmen.

Ist BDS antiisraelisch oder antisemitisch?

Ist ein solcher Boykottaufruf „nur“ antiisraelisch oder bereits antisemitisch? Ist jede Aktion der BDS nicht nur gegen die Politik Israels gerichtet, sondern insgesamt antisemitisch, wie es der Bundestag formulierte, weswegen sie nun gleich selbst boykottiert werden muss? Gegen diese Deutung wehren sich die Unterzeichner der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, darunter das Goethe-Institut, der Deutsche Bühnenverein, das Deutsche Theater Berlin, das Humboldt-Forum, das Nationaltheater Mannheim und der Württembergische Kunstverein in Stuttgart.

Furcht vor Einschränkung der Diskussionsfreiheit

Sie begründen ihre Entscheidung mit der Furcht vor Selbstzensur und Einschränkung der Diskussionsfreiheit: „Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt.“ Zugleich wenden sich die Unterzeichner von GG 5.3 aber selbst gegen Antisemitismus und Rassismus und kritisieren den Israel-Boykott der BDS-Bewegung.

Schadet die Resolution des Bundestages der Kunstfreiheit, wie GG 5.3 behauptet? Als prominentes Beispiel führte die Initiative die Debatte über den kamerunischen Historiker und Kolonialismusexperten Achille Mbembe an. Stefanie Carp, die Leiterin der Ruhrtriennale, hatte ihn eingeladen, den Eröffnungsvortrag des Festivals im Sommer 2020 zu halten. Mbembe aber war in die Kritik geraten, unter anderem, weil er im Zusammenhang mit Israels Palästinenserpolitik den Begriff „Apartheid“ verwendete. Politiker forderten, ihn deswegen vom Festival auszuladen. Allerdings wurde wegen Corona die Ruhrtriennale dann sowieso abgesagt.

Achille Mbembes Vortrag wurde nicht verboten

Die Ruhrtriennale-Chefin Carp hat Erfahrungen auf dem heiklen Terrain: 2018 hatte sie die schottische Popband Young Fathers eingeladen, die ihrerseits die Bewegung BDS unterstützt. Eine heftige Debatte begann, Carp lud die Band auf Druck erst wieder aus, dann erneut ein.

Die Resolution hat keine rechtliche Verbindlichkeit

Aber stellt die Resolution des Bundestages wirklich die Kunstfreiheit infrage? Formal ist sie nur eine politische Meinungsäußerung des Parlaments. Sie ist nicht in rechtlichem Sinn verbindlich, niemandem in Deutschland wird durch sie verboten, Künstler oder Wissenschaftler ins Programm einzuladen, die der BDS nahestehen oder sie unterstützen.

Seit Veröffentlichung der GG-5.3-Resolution schlagen die Wogen trotzdem hoch. Henryk M. Broder schrieb in der Tageszeitung „Die Welt“: „Das war es, was die Repräsentantinnen und Repräsentanten öffentlicher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen . . . in Rage brachte: Keine Staatsknete für Gruppen, die es geschafft hatten, die alte Parole ,Kauft nicht bei Juden‘ neu zu paraphrasieren.“ Die Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums treibt die Debatte weiter an.

Vorwurf des linken Antisemitismus

Doch die Kultureinrichtungen wehren sich gegen solche Angriffe. Auf Anfrage unserer Zeitung heißt es, man weise „die Aufnahme der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit in die Liste des Zentrums entschieden zurück“. Und holt zum Gegenangriff aus – mit der Abwertung des Simon-Wiesenthal-Zentrums. So teilt das Deutsche Theater Berlin stellvertretend für die Initiative mit: „Das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles hat sich mit seinen politischen Einordnungen seit mehreren Jahren nicht als ernst zu nehmender Teilnehmer in der Diskussion um Antisemitismus erwiesen.“ Und weiter: „Wir schließen uns der Einschätzung des israelischen Botschafters in Berlin, Jeremy Issacharoff, an, der das Zentrum vor Kurzem als Urheber von ‚wirklich völlig unangebrachten‘ Vorwürfen kritisiert hat.“

Jeglicher Boykott gegen Israel wird abgelehnt

Das Auswärtige Amt wiederum erklärt, man betrachte „die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit als Meinungsbeitrag in einer kontroversen Debatte“. Sein Sprecher Christofer Burger betont aber: „Es ist die klare Haltung der Bundesregierung, dass wir jegliche Form des Boykotts gegen Israel ablehnen, sowie natürlich Antisemitismus in allen seinen Manifestationen. Wir sehen den wachsenden Antisemitismus in Deutschland, aber auch international mit großer Sorge.“ Man halte an der Position fest, eine Zusammenarbeit mit der BDS-Bewegung auszuschließen.

Ohne Zweifel: Diese Debatte ist hochkomplex, jedes Wort will streng abgewogen sein. Was kann da helfen? Vielleicht ein Blick ins Praktische, ans Schauspielhaus Stuttgart, das Stücke wie Wajdi Mouwads Drama „Vögel“ aufführt, das sich vielschichtig mit dem Thema Israel und Palästina befasst und den Diskurs auf Deutsch, Arabisch und Hebräisch führt.

Info

Simon-Wiesenthal-Zentrum (SWZ) Das 1977 gegründete Zentrum ist mit der weltweiten Suche nach untergetauchten Naziverbrechern bekannt geworden. Seit 2010 stuft das SWZ jährlich auf einer Top-Ten-Liste Äußerungen als antisemitische, antiisraelische Ressentiments und Verunglimpfungen ein.

BDS Die Abkürzung BDS steht für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“. Die 2005 von zivilgesellschaftlichen palästinensischen Organisationen gegründete Organisation will Israel isolieren und aus der UN ausschließen lassen. Der Staat soll für seine Palästinenser-Politik gestraft und zur Umkehr gezwungen werden. Zu den Unterstützern gehören Prominente aus dem Kulturleben wie Judith Butler und Roger Waters (Pink Floyd).

Originalbeiträge im Internet

Die Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums kann man hier im Netz abrufen. Das Plädoyer der deutschen Initiative lässt sich hier nachlesen, und die BDS-Resolution des Bundestags ist hier zu finden.

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